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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

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Heft 4 (Januar 1930)
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Kütemeyer, Wilhelm: "Jahrbuch der Sektion der Dichtkunst der preußischen Akademie der Künste"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0300

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müssen. Hier kommen auch dem Herrn Präsidenten Bedenken; vielleicht flüfterte
i'hm Lessing, der solchen Nötigungen gegenüber rührend und aufrührend unterhalt-
sam, dialektifch, enthaltsam sein konnte, ins Ohr: kein Iltenfch muß müssen; jeden-
falls und für alle Fälle fand jener zlvifchenhindurch die bedenklichen Worte:
„Wenn heute sein Geift herniederstiege, er mürde sich unserer Huldigung kaum
freuen. Würde er uns nicht fragen, ob wir auch wissen, weshalb wir ihn feiern?"
Man ift erfchrocken, wie nahe die Rhetorik der Wahrheit kommt, und man ahnt
fchon, daß er auf den Mann zielt, der dann „auS autoritativem Munde" den ge-
feierten Dichter würdigen wird, wenn er seine Begrüßungsworte „machtvoll ent-
schieden" mit Goethe fchließt: „Ein Mann wie Lessing täte uns not." Man weiß
nicht recht, ob man Lessing feiert, w e i l man ihn und seinen Geift dauernd
verrät, oder um Thomas Mann, dessen Lessingporträt bis auf die Männlichkeit
(S. iZö) ein Selbftporträt ift, Gelegenheit zu geben, sich die Polemik Lessings, die
ihn, wäre er mit ihm gleichzeitig gewesen, getroffen hätte, wie den Paftor Goetze, selbft
über den Hals zu bringen, indem er sie fchildert. Ober wäre es Lessing nicht erngefallen,
wenn er Thomas Mann also reden gehört hätte: „LessingS Wahrheitsliebe ist die
radikalste, sein Talent, die Wahrheit, wie er sich ausdrückt, bis in ihre letzten
Schlupfwinkel zu verfolgen, ist unbändig, und bei solchen Berfolgungen natürlich
am behendesten, wenn es sich um Selbfterkenntnis handelt", wäre es ihm angesichts
dieseö unbändigen Talentes, dieser behenden Wahrheitsliebe und der abgründigen
Verlorenheit — „Nettigkeit" sagt man in seinem Jargon — dieseS „natürlich"
nicht als einzige Rettung erfchienen, in diesem Satz Lessing durch Mann zu ersetzen?
Wäre so nicht der natürliche Zustand wiederhergeftellt, wo sich die Unnatur Manns
vergeblich um Natürlichkeit bemüht? Geht es etwa nicht mit natürlichen Dingen
zu, wenn Mann in der Beantwortung der Rundfrage einer Zeitfchrift zu der Ein-
sicht kommt: „Das »Genie« von unsereinem besteht darin, daß wir uns für die
Dinge vier, fünf Jahre früher interessieren als die Mehrzahl"? Und ist die Natur,
deren Rechte, wie er herausfand, nachdem er auch über die Psychoanalyse Be-
fcheid wußte, er dem christlichen Geist gegenüber zu wahren hat, um eine Dimen-
sion reicher als die Natürlichkeit seiner Selbsterkenntnis? Wer glaubte ihm da
noch, „daß die Kriterien deö Wahren wem'ger in der verfochtenen Wahrheit selbst
liegen als in dem, der sie verficht" (S. 156)? Wen gelüstete da überhaupt noch
nach dem Zauber seines Geistes, dem „männlichen Licht" und „dem Mannes-
alter", das er ersehnt und kommen sieht?

Walter von Molo, in seiner Ansprache bei Eröffnung der Lessingausstellung in der
preußifchen Staatsbibliothek, füllt den Abstand von Lessing mit dem großen Wort
aus. „O Lessing, du bist uns — nahe? nein — sehr nahe" (S. 17^)- ünd da geht
ihm das Herz auf. „Als LeidenSnachfolger" gedenkt er LessingS „mit ftarker Treue",
er denkt „an die bitteren Jahre, in denen er Bibli'otheksgehilfe, Übersetzer aus Not
war, Korrekturen um Geld lesen, Artikel um Brot fchreibcn mußte, Gründer von Zeit-
schriften war, denen seine Nation Gefolgfchaft verweigerte". „Das ist und bleibt
schwere Schuld seiner Zeit. Die Dichtersektion will alles dazu tun, damit unsere Zeit
hierinnen weniger fchuldhaft wird" (er meint fchuldig, aber der Dichter drückt sich
gewählt aus). Man kann ergriffen sein, wenn man dies liest. Welche Aufgabe!
Die „staatliche Dertretung und sichtbare Repräsentation des dichterifch-fchöpferifchen
Schrifttums" (so drückt sich der erste ständige Sekretär Amersdorfer auf Seite 2-f
aus), deren „natürliche Spitze mit seinem Werk, das sich auS den Einzelfchöpfungen
längst zu dem Lebenswerk der Persönlichkeit gesammelt hat, mit seinem Alter und
mit der großen repräsentativen Bedeutung Gerhart Hauptmann" (so Wilhelm von
Scholz auf S. Zi) und deren Ziel es ist, „eine Körperfchaft zu werden, i'n der das
sprachliche und dichterifche Gewissen der Nation lebendig ist" (derselbe S. Z2),
kurz, die Scktion für Dichtkunst der prenßifchen Akademie der Künfte will den

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