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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

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Heft 5 (Februar 1930)
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Herrigel, Hermann: Bemerkung: Auftrag und private Sphäre
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0384

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kenntrus, sein Gewissen sind kcinc absolnten Grvßen, die bei allen Richkern gleich
wären. Daher rverden in vielen Fällen zwei Richter in derselben Sache ein ver-
schiedenes Urteil fällen, gerade wenn sie nach bestern Wissen und Gewissen urteilen.
Was heißt denn Gewissen? Der cine ist auch gewissenhafter als der andere, aber auch
seine Gewissenhaftigkeit ist begrenzt durch die Zahl der Fälle, auf die sie sich verteilt,
durch seine physische Arbeitskraft, durch Gesundheits- und Strrnrnurigsschwankungen.
Alles das sind keine greifbaren Ilmstände; man kann einen Richter nicht ablehnen,
weil er an schlechter Verdauung leidet. Man könntc oder müßte sonst alle Richter
ablehnen, denn keiner ist frei von solchen der privaten Sphäre angehörigen Schwan-
kungsmomenten, alle sind sic Menschen, kciner ist der Normalrichter schlechthin.
Aber ihr Urteil ist rechtskräftig. Es kann freilich durch die BerufungSgerichte nach-
geprüft werden, aber auch durch diese Maßnahmen läßt sich der Unsicherheitsfaktor
nicht völlig aufzehren, sondern nur um etwas einschränken, denn alles hier Gesagte
gilt auch voni Berufungörichter. Die Rechtsprechung kann also die Gcrechtigkeit
nicht restlos verwirklichen, sondern eS bleibt in ihr ein unberechenbarer, nicht organi-
sierungsfähiger, schicksalhafter Rest, der auf keine Weise zu bewältigen ist.

Dieser Erdenrest — von dem man nicht gerne spricht — ist keine besondere Eigen-
tümli'chkeit der Rechtsprechung. Er hak mit dem Recht als solchem nichts zu tun
und kommt im Gesetz mit keinem Wort vor. Er muß sogar darin verschwiegen
werden, denn da er unberechenbar ist, würde er jedes Gesetz sprengen. Doch ist auch
das keine Eigentümlichkeit des Rechtes, daß ihm dieser Rest unzugänglich bleibt.
Was vom Richter gesagt wurde, gilt ebenso vom Lehrer oder vom Arzt. Auch wo
der Lehrauftrag, wo die Lehrpläne dieselben sind, ist das Lehrergebnis verschieden.
Es kann zwar durch öffentliche Prüfungen vor der Schulbehörde bis zu ciner ge-
wissen Grenze normiert werden, aber wahrscheinlich ist im Gesamtumfang des Lehr-
auftrages der Bereich dessen, was sich normieren läßt, viel geringer als das, waS
sich der Normierung entzieht. Es gibt keinen Normallehrer, sonöern es bleibt eine
Glückssache, ob wir cinen guten oder schlechten Lehrer finden. Wenn man sagt, daß
dic Schulfrage in erster Linie eine Lchrorfrage sei, so heißt dies, daß das, was sich
durch Schulgesetzgebung regeln läßt, verhältnismäßig unwichtig ist gegenübcr dem,
was der gute Lehrer dazuzugeben hat; daß auch die beste Gesetzgebung erst wirksam
wird durch den guten Lehrcr. Ebenso wie die Richter sind auch die Lehrer verschieden
durch den Umfang ihrer Kenntnisse, durch ihre Gewissenhaftigkeit, durch ihre physische
Leistungsfähigkeit, ferner dnrch ihre Lehrbefähigung, durch ihre suggestive Kraft,
den Lehrstoff zu verlebendigen und Interesse dafür zu erwecken, durch ihre Sympa-
thien und Antipathien, die den Schüler anregen oder unterdrücken, sein Selbstbcwußt-
sein stärken oder schwächcn. Alle diese veränderlichen Faktoren, die zum indivi-
duellen, nicht normierbaren Besih des Lehrers gehören und in seinem Auftrag nicht
vorkommen, beeinflussen die Ausführung seines Auftrages in entscheidender Weise und
machen sein Ergebnis unberechenbar.

Ebendasselbe ließe sich vom Arzt sagen, überhaupt von jedem Beamten und Ange-
stellten, von jedem irgendwie Beanftragten, daß außer der normierbaren Tüchtigkeit
für den Auftrag die unauslöschbare persönliche Eigenart als unberechenbares und
schicksalhaftes Moment in Kauf genommen werden muß, das die Ausführung so
oder so bestimmt. Auftrag und persönliche Eigenart lassen sich nicht so scharf gegen-
einandec abgrenzen, daß die private Sphäre des Beauftragten sich bei' der AuS-
führung ausscheiden ließe. Der Auftrag ist in sich nicht vollständig und abgeschlossen,
er wird nicht einem Normalmenschen erteilt, sondern dem Beauftragten so wie er ist.
Damit ist gesagt, daß im Rahmen des AuftragS dcr Einsatz seiner persönlichen
Eigenart von ihm gefordert wird, aber zugleich auch, daß im selben Rahmen der
Entfaltung der persönlichen Eigenart Raum und Freiheit gegeben ist. Wenn Ra-
tionalisierungömaßnahmen in einem Betrieb darauf auSgehen, die private Sphärc

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