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Kapitel I
Ereignisgeschichtlich angelegte Darstellungen aber berücksichtigen die Rezi-
prozität der Lehensbeziehung in der Regel kaum.
Die Wahrnehmung der Lehensbindung als vorrangig und als herrschaft-
lich bestimmt, verstellt allerdings den Blick darauf, daß das soziale Umfeld
eines hochmittelalterlichen Adligen zwar aus »Verwandten«, »Freunden«
und »Getreuen« bestand, aber kaum deutlich nach diesen Kategorien diffe-
renziert werden kann. Vielmehr überschnitten sich diese Gruppen nicht nur
in ihrer Zusammensetzung, sondern auch in den Konzepten, die sie be-
stimmten. Gemeinsam war allen drei Beziehungen das Element der
Diese war keineswegs Ausdruck eines Befehl-Gehorsams-Verhältnisses.
Vielmehr wurde sie im Kern als »negative Treue« verstanden, d.h. als Pflicht,
den Herrn, Verwandten oder Freund nicht zu schädigen oder anzugreifen .
Der Begriff deryii&s war zwar offen für eine weitreichende Aufladung mit po-
sitiven Beistands- und Schutzverpflichtungen; diese konnten allerdings viel-
fach nur erbeten, nicht aber eingefordert werden. Die elementaren Verpflich-
tungen des Mannes gegenüber seinem Herrn, seinen Verwandten und seinen
Freunden waren daher im Kern identisch. Die soziale Praxis determinierte
Schmidt/Rainer Christoph Schwinges/Sabine Weiers, Berlin 2000, S. 53-87; Jürgen HANNIG,
Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und
Adel am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27),
Stuttgart 1982; vgl. ALTHOFF 1990, S. 10.
16 Zur Instrumentalisierung und Umdeutung des Begriffs der »germanischen Treue« als frei-
willige, aber bedingungslose Hingabe der Gefolgschaft an den Führer implizierende Unter-
werfung im Nationalsozialismus vgl. ALTHOFF 1990, S. 10; Walther KIENAST, Germanische
Treue und 'Königsheil', in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 265-327; Frantisek GRAUS,
Herrschaft und Treue. Betrachtungen zur Lehre von der germanischen Kontinuität, in: Hi-
storica 12 (1966), S. 5-44; Frantisek GRAUS, Über die sogenannte germanische Treue, in: Hi-
storica 1 (1959), S. 71-121; Hans KUHN, Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft, in: Zeit-
schrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. GA 73 (1956), S. 1-83.
17 Fulbertus Camotensis, Epistolae (OMT; ed. Behrends), Nr. 51; vgl. Heinrich FICHTENAU, Le-
bensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karo-
lingerreich (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 30), Stuttgart 1984, S. 211; Alfons
BECKER, Form und Materie. Bemerkungen zu Fulberts von Chartres 'De forma fidelitatis' im
Lehnrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch 102 (1982), S.
325-361; Heinrich MlTTEIS, Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterli-
chen Verfassungsgeschichte, Weimar 1933, S. 531 f. Der Hinweis Fichtenaus, die Betonung
der negativen Treue bei Fulbert sei möglicherweise eine Reaktion auf die allzu große Stren-
ge, mit der Herzog Wilhelm von Aquitanien, der Empfänger des Briefes, seine Vasallen be-
handelte, berücksichtigt nicht die weite Verbreitung, die der Brief Fulberts in den folgenden
Jahrhunderten als klassische Definition der Lehenstreue fand. Zur Verwendung der/bnna /i-
iMüaü's Fulberts von Chartres in der Diskussion um die Thesen von Susan Reynolds vgl.
FRIED 1997, S. 39.
Für die Anwendung des Begriffs »Freundschaft« zur Bezeichnung zwischenstaatlicher Be-
ziehungen im Frühmittelalter hat bereits Bruno PARADISI, L 'amicitia' intemazionale nell'alto
medio evo, in: Scritti in onore di Contardo Ferrini pubblicati in occasione della sua beatifica-
zione 2 (Universitä Cattolica del Sacro Cuore. Pubblicazioni 18), Milano 1947, S. 178-225,
aufgezeigt, daß unter Freundschaft im wesentlichen »ein Verhältnis wohlwollender Neutra-
lität (verstanden wurde), das es ermöglichte, diplomatische Beziehungen zu unterhalten,
(und) zunächst nicht viel mehr als den Ausschluß feindlicher Handlungen (beinhaltete)«;
EPP 1999, S. 17.
Kapitel I
Ereignisgeschichtlich angelegte Darstellungen aber berücksichtigen die Rezi-
prozität der Lehensbeziehung in der Regel kaum.
Die Wahrnehmung der Lehensbindung als vorrangig und als herrschaft-
lich bestimmt, verstellt allerdings den Blick darauf, daß das soziale Umfeld
eines hochmittelalterlichen Adligen zwar aus »Verwandten«, »Freunden«
und »Getreuen« bestand, aber kaum deutlich nach diesen Kategorien diffe-
renziert werden kann. Vielmehr überschnitten sich diese Gruppen nicht nur
in ihrer Zusammensetzung, sondern auch in den Konzepten, die sie be-
stimmten. Gemeinsam war allen drei Beziehungen das Element der
Diese war keineswegs Ausdruck eines Befehl-Gehorsams-Verhältnisses.
Vielmehr wurde sie im Kern als »negative Treue« verstanden, d.h. als Pflicht,
den Herrn, Verwandten oder Freund nicht zu schädigen oder anzugreifen .
Der Begriff deryii&s war zwar offen für eine weitreichende Aufladung mit po-
sitiven Beistands- und Schutzverpflichtungen; diese konnten allerdings viel-
fach nur erbeten, nicht aber eingefordert werden. Die elementaren Verpflich-
tungen des Mannes gegenüber seinem Herrn, seinen Verwandten und seinen
Freunden waren daher im Kern identisch. Die soziale Praxis determinierte
Schmidt/Rainer Christoph Schwinges/Sabine Weiers, Berlin 2000, S. 53-87; Jürgen HANNIG,
Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und
Adel am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27),
Stuttgart 1982; vgl. ALTHOFF 1990, S. 10.
16 Zur Instrumentalisierung und Umdeutung des Begriffs der »germanischen Treue« als frei-
willige, aber bedingungslose Hingabe der Gefolgschaft an den Führer implizierende Unter-
werfung im Nationalsozialismus vgl. ALTHOFF 1990, S. 10; Walther KIENAST, Germanische
Treue und 'Königsheil', in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 265-327; Frantisek GRAUS,
Herrschaft und Treue. Betrachtungen zur Lehre von der germanischen Kontinuität, in: Hi-
storica 12 (1966), S. 5-44; Frantisek GRAUS, Über die sogenannte germanische Treue, in: Hi-
storica 1 (1959), S. 71-121; Hans KUHN, Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft, in: Zeit-
schrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. GA 73 (1956), S. 1-83.
17 Fulbertus Camotensis, Epistolae (OMT; ed. Behrends), Nr. 51; vgl. Heinrich FICHTENAU, Le-
bensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karo-
lingerreich (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 30), Stuttgart 1984, S. 211; Alfons
BECKER, Form und Materie. Bemerkungen zu Fulberts von Chartres 'De forma fidelitatis' im
Lehnrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch 102 (1982), S.
325-361; Heinrich MlTTEIS, Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterli-
chen Verfassungsgeschichte, Weimar 1933, S. 531 f. Der Hinweis Fichtenaus, die Betonung
der negativen Treue bei Fulbert sei möglicherweise eine Reaktion auf die allzu große Stren-
ge, mit der Herzog Wilhelm von Aquitanien, der Empfänger des Briefes, seine Vasallen be-
handelte, berücksichtigt nicht die weite Verbreitung, die der Brief Fulberts in den folgenden
Jahrhunderten als klassische Definition der Lehenstreue fand. Zur Verwendung der/bnna /i-
iMüaü's Fulberts von Chartres in der Diskussion um die Thesen von Susan Reynolds vgl.
FRIED 1997, S. 39.
Für die Anwendung des Begriffs »Freundschaft« zur Bezeichnung zwischenstaatlicher Be-
ziehungen im Frühmittelalter hat bereits Bruno PARADISI, L 'amicitia' intemazionale nell'alto
medio evo, in: Scritti in onore di Contardo Ferrini pubblicati in occasione della sua beatifica-
zione 2 (Universitä Cattolica del Sacro Cuore. Pubblicazioni 18), Milano 1947, S. 178-225,
aufgezeigt, daß unter Freundschaft im wesentlichen »ein Verhältnis wohlwollender Neutra-
lität (verstanden wurde), das es ermöglichte, diplomatische Beziehungen zu unterhalten,
(und) zunächst nicht viel mehr als den Ausschluß feindlicher Handlungen (beinhaltete)«;
EPP 1999, S. 17.