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Eickels, Klaus; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Vom inszenierten Konsens zum systematisierten Konflikt: die englisch-französischen Beziehungen und ihre Wahrnehmung an der Wende vom Hoch- zum Spätmittelalter — Mittelalter-Forschungen, Band 10: Stuttgart, 2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.34724#0058

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54

Kapitel II

beider Reiche hinweg bis zum Beginn des Hundertjährigen Krieges bestehen.
Punktuelle militärische Entscheidungen (wie die Schlachten von Hastings
und Bouvines) und biologische Zufälle (wie der Zeitpunkt des Todes oder die
Zahl der Kinder eines Herrschers) markieren die Wendepunkte der Entwick-
lung und können ihre Anfänge erklären, kaum aber die Persistenz der Struk-
turen.
Vom Standpunkt nationalgeschichtlich orientierter Historiographie er-
scheinen die englisch-französischen Beziehungen als äußerer Faktor, der die
Entstehung nach innen geschlossener und nach außen abgegrenzter Staatlich-
keit in beiden Reichen um Jahrhunderte verzögerte und so die Herausbildung
einer der entscheidenden Voraussetzungen für die Konstituierung der Nation
als politisches Subjekt in der Neuzeit infragestellte. Rückt man dagegen die
Beziehungen zwischen beiden Königen und die Kategorien der historiogra-
phischen Wahrnehmung ihres Verhältnisses selbst in den Mittelpunkt der
Betrachtung, so erweist sich die Verschränkung der Herrschaftsbereiche als
Modellfall hochmittelalterlicher Herrschaftspraxis, die sich in Reichen mit of-
fenen Grenzen und in der konsensualen Rückbindung des Herrschers an sei-
nen Adel entfaltetet Zum Konflikt führte der Status des Festlandsbesitzes der
englischen Könige erst, als seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zunehmen-
de Verschriftlichung, abstrakt-begriffliches Denken und rechtliche Systemati-
sierung die flexiblen Kategorien herrschaftlicher und freundschaftlicher Bin-
dung hierarchisch vereindeutigten, aus karolingischer Tradition an römisch-
rechtliche Ordnungsvorstellungen annäherten und die Grundlagen für die
Ausbildung moderner Staatlichkeit in beiden Reichen legten.
Die Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts hat drei sich wechselseitig
verstärkende Prozesse herausgearbeitet, die die Entwicklung der Beziehun-
gen zwischen den Königen Englands und Frankreichs nach 1066 bestimmten:
das wachsende Bewußtsein nationaler Identität, dem die Herrschaft engli-
scher Könige über große Teile des Königreichs Frankreich zuwiderlief; den
dynastischen Gegensatz zwischen den Nachkommen Wilhelms des Eroberers
und den Nachkommen Hugo Capets, der seit der Mitte des 12. Jahrhunderts
zum Ringen der Plantagenets und der Kapetinger um die Vorherrschaft in
Westeuropa wurde; schließlich das Wiedererstarken des französischen Kö-
nigtums, das aus beschränkten Anfängen in der Ile-de-France den Sanktions-
bereich seiner Herrschaft auf das Gebiet des ganzen westfränkischen Reiches
ausdehnte, über das die karolingischen Vorgänger der Kapetinger im 9. und
10. Jahrhundert geboten hatten.
Alle drei Erklärungsmodelle sind historiographische Konstrukte, die
durchaus die historischen Wurzeln späterer Phänomene aufzeigen können

2 Zum Begriff »konsensuale Herrschaft« vgl. SCHNEIDMÜLLER 2000.
3 Keechang KIM, Etre fidele au roi, XHe-XIVe siede, in: Revue historique 293 (1995), S. 225-
250; Gabrielle M. SPIEGEL, 'Defense of the Realm'. Evolution of a Capetian Propaganda
Slogan, in: Journal of Medieval History 3 (1977), S. 115-134, insb. S. 129: »The process by
which a society comes to assent to new definitions of political legitimacy surely has
something to do with its ability to relate them to older forms and structures of thought«.
 
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