Akt von St-Clair-sur-Epte
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Sememündung, m das Land, das Gott Rollo in einer Vision verheißen hat' .
Nach langen Kämpfen, in denen sich die militärische Überlegenheit Rollos
und seiner Normannen gezeigt hat, bittet der westfränkische König Karl (der
Einfältige) schließlich um Frieden und akzeptiert nach langen Verhandlungen
die Bedingungen Rollos: Rollo erhält die Normandie und, weil diese durch
die Kampfhandlungen verwüstet ist, zusätzlich als vorläufige Existenz-
grundlage auch die Bretagne.
Daraufhin geleiten ihn die westfränkischen Verhandlungsführer, Herzog
Robert von Franzien und Bischof Franco von Rouen, zum König, der ihn mit
allen Großen seines Reiches in St-Clair-sur-Epte an der zukünftigen Grenze
des normannischen Herrschaftsbereichs erwartet:
»Als aber die Franken Rollo, den Verheerer des ganzen fränkischen Rei-
ches erblickten, sprachen sie zueinander: ,Von großer Macht und von großer
Mannhaftigkeit (rz'rfMs), von großer Klugheit und Besonnenheit, auch von
großer Ausdauer ist dieser Herzog, der so große Schlachten gegen die Grafen
dieses Königreiches geschlagen hat!' Von diesen Worten der Franken über-
wältigt (coacfMs), legte Rollo sogleich seine Hände zwischen jene des Königs;
das hatten weder sein Vater noch sein Großvater noch irgendeiner seiner Vor-
fahren jemals irgendjemandem gegenüber getan. Daher gab der König dem
Herzog seine Tochter Gisela zur Ehefrau, dazu das vereinbarte Land von der
Epte bis an das Meer zu Herrschaft und Besitz, außerdem die ganze Bretagne,
damit er davon lebe.
Als aber Rollo den Fuß des Königs nicht küssen wollte, sagten die Bischö-
fe: ,Wer eine solche Gabe empfängt, muß sich mit einem Kuß zum Fuß des
Königs drängen.' Jener entgegnete: ,Niemals werde ich meine Knie vor ir-
gendjemandes Füßen beugen und niemals irgendjemandes Fuß küssen.'
Durch die Bitten der Franken gedrängt, befahl er schließlich einem seiner
6 Die Irrfahrten Rollos sind bei Dudo von St-Quentin nach dem Vorbild der Aeneis stilisiert.
Ähnlich wie Aeneas nach dem Untergang Trojas müssen auch Rollo und seine Gefolgsleute
ihre Heimat verlassen, nachdem sie in einer militärischen Auseinandersetzung unterlegen
sind. In auch unter yerHer-Gesichtspunkten interessanter Weise überträgt Dudo im weiteren
Verlauf seiner Darstellung die Dido-Episode seiner antiken Vorlage in eine für hochmittel-
alterliche Leser zugängliche Form: Nach der Landung Rollos in England schließt König Ae-
thelstan mit ihm einen Bund unauflöslicher Liebe und Freundschaft und bietet ihm die Ver-
einigung ihrer Völker unter ihrer gemeinschaftlichen Herrschaft an. Wie Aeneas die Ehe mit
Dido (und das Aufgehen seiner Trojaner im karthagischen Volk) ablehnt, weist auch Rollo
letzteres Ansinnen zurück; Dudo Sancti Quintini, De moribus et actis primorum Norman-
niae ducum (ed. Lair), S. 148; Francine MORA, Dudon de Saint-Quentin et ses deux traduc-
teurs frangais, in: Dudone di San Quintino, hg. v. Paolo Gatti/Antonella deglTnnocenti
(Labirinti 16), Trient 1995, S. 49-75, S. 72. Zur sprachlichen Anlehnung an die Aeneis vgl. im
übrigen Pierre BOUET, Dudon de Saint-Quentin et Virgile. L"Eneide' au Service de la cause
normande, in: Recueil d'etudes en hommage ä Lucien Müsset (Annales de Normandie 23),
Caen 1990, S. 215-236.
7 Der Wortlaut Dudos ist kaum adäquat übersetzbar. Der Bedeutungsgehalt von inrasor (Ein-
dringling) liegt zwischen »Angreifer« und »Eroberer«; das Wort bezeichnet hier den erfolg-
reichen Angreifer, der jedoch nicht die Absicht hat, sich das gesamte eroberte Gebiet anzu-
eignen. Ob Dudo hier seinem überwiegenden sonstigen Sprachgebrauch entsprechend mit
Francia nur die Ile-de-France meint oder doch hyperbolisch auf das gesamte (west)fränkische
Reich verweist, muß offenbleiben; vgl. SCHNEIDMÜLLER 1987, S. 74 f.
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Sememündung, m das Land, das Gott Rollo in einer Vision verheißen hat' .
Nach langen Kämpfen, in denen sich die militärische Überlegenheit Rollos
und seiner Normannen gezeigt hat, bittet der westfränkische König Karl (der
Einfältige) schließlich um Frieden und akzeptiert nach langen Verhandlungen
die Bedingungen Rollos: Rollo erhält die Normandie und, weil diese durch
die Kampfhandlungen verwüstet ist, zusätzlich als vorläufige Existenz-
grundlage auch die Bretagne.
Daraufhin geleiten ihn die westfränkischen Verhandlungsführer, Herzog
Robert von Franzien und Bischof Franco von Rouen, zum König, der ihn mit
allen Großen seines Reiches in St-Clair-sur-Epte an der zukünftigen Grenze
des normannischen Herrschaftsbereichs erwartet:
»Als aber die Franken Rollo, den Verheerer des ganzen fränkischen Rei-
ches erblickten, sprachen sie zueinander: ,Von großer Macht und von großer
Mannhaftigkeit (rz'rfMs), von großer Klugheit und Besonnenheit, auch von
großer Ausdauer ist dieser Herzog, der so große Schlachten gegen die Grafen
dieses Königreiches geschlagen hat!' Von diesen Worten der Franken über-
wältigt (coacfMs), legte Rollo sogleich seine Hände zwischen jene des Königs;
das hatten weder sein Vater noch sein Großvater noch irgendeiner seiner Vor-
fahren jemals irgendjemandem gegenüber getan. Daher gab der König dem
Herzog seine Tochter Gisela zur Ehefrau, dazu das vereinbarte Land von der
Epte bis an das Meer zu Herrschaft und Besitz, außerdem die ganze Bretagne,
damit er davon lebe.
Als aber Rollo den Fuß des Königs nicht küssen wollte, sagten die Bischö-
fe: ,Wer eine solche Gabe empfängt, muß sich mit einem Kuß zum Fuß des
Königs drängen.' Jener entgegnete: ,Niemals werde ich meine Knie vor ir-
gendjemandes Füßen beugen und niemals irgendjemandes Fuß küssen.'
Durch die Bitten der Franken gedrängt, befahl er schließlich einem seiner
6 Die Irrfahrten Rollos sind bei Dudo von St-Quentin nach dem Vorbild der Aeneis stilisiert.
Ähnlich wie Aeneas nach dem Untergang Trojas müssen auch Rollo und seine Gefolgsleute
ihre Heimat verlassen, nachdem sie in einer militärischen Auseinandersetzung unterlegen
sind. In auch unter yerHer-Gesichtspunkten interessanter Weise überträgt Dudo im weiteren
Verlauf seiner Darstellung die Dido-Episode seiner antiken Vorlage in eine für hochmittel-
alterliche Leser zugängliche Form: Nach der Landung Rollos in England schließt König Ae-
thelstan mit ihm einen Bund unauflöslicher Liebe und Freundschaft und bietet ihm die Ver-
einigung ihrer Völker unter ihrer gemeinschaftlichen Herrschaft an. Wie Aeneas die Ehe mit
Dido (und das Aufgehen seiner Trojaner im karthagischen Volk) ablehnt, weist auch Rollo
letzteres Ansinnen zurück; Dudo Sancti Quintini, De moribus et actis primorum Norman-
niae ducum (ed. Lair), S. 148; Francine MORA, Dudon de Saint-Quentin et ses deux traduc-
teurs frangais, in: Dudone di San Quintino, hg. v. Paolo Gatti/Antonella deglTnnocenti
(Labirinti 16), Trient 1995, S. 49-75, S. 72. Zur sprachlichen Anlehnung an die Aeneis vgl. im
übrigen Pierre BOUET, Dudon de Saint-Quentin et Virgile. L"Eneide' au Service de la cause
normande, in: Recueil d'etudes en hommage ä Lucien Müsset (Annales de Normandie 23),
Caen 1990, S. 215-236.
7 Der Wortlaut Dudos ist kaum adäquat übersetzbar. Der Bedeutungsgehalt von inrasor (Ein-
dringling) liegt zwischen »Angreifer« und »Eroberer«; das Wort bezeichnet hier den erfolg-
reichen Angreifer, der jedoch nicht die Absicht hat, sich das gesamte eroberte Gebiet anzu-
eignen. Ob Dudo hier seinem überwiegenden sonstigen Sprachgebrauch entsprechend mit
Francia nur die Ile-de-France meint oder doch hyperbolisch auf das gesamte (west)fränkische
Reich verweist, muß offenbleiben; vgl. SCHNEIDMÜLLER 1987, S. 74 f.