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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 1
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rief eines VaterS an seinen Sohn.

Von Robert Walser.

Du beklagst dich, mein lieber Sohn, darüber, daß ich dich
HLchst mangelhaft erziehe, daß ich dich z. B. nach Nidau hmaus-
schicke, um eine Kommission zu verrichten, und daruber, daß lch
dir befehle, in den Holzkeller hinunterzuspazieren, um Holz zu
spalten. Sei nicht unaufrichtig, sei nicht sentimental, Zunge: weiß
ich ja doch ganz genau, daß dir das Laufen auf der heißen und
staubbedeckten Landstraße, die nach Nidau, dem altersgrauen
StLdtchen hinausführt, Dergnügen macht, und daß du leidenschaftlich
gern Holz spaltest. Du wirfst mir vor, daß im Mülleimerherunter-
tragen und im Holzhacken keine Erziehung liege. Jch bin aber
anderer Änsicht. Es liegt sehr viel Erziehung von der besten Sorte
in der Verrichtung gewissermaßen schäbiger, schimmeliger und nied-
riger Arbeiten. Wenn du z. B. mit dem Milchtopf in der Hand
über die Gasse gehen mußt, um Milch beim Milchhandler zu holen,
eine Verrichtung, deren du dich vielleicht ein wenig schämst, weil
bekannte Leute dir begegnen, von denen du weißt, daß sie sich
sagen, „jeht muß er sogar Milch über die Gasse holen", so ist das,
wenn auch nicht scheinbar, doch aber in Wirklichkeit eine aus-
gezeichnete Erziehung, denn da lernst du dich demütigen, und im
Genuß dessen, was demütigend ist, liegt eine köstliche Bildung.
So und ähnlich, lieber Sohn, bilde ich dich, und ich glaube, du
darfst mir dankbar sein dafür. Du scheinst es nicht zu sein: nun,
ich denke, du verstehst es eben noch nicht. Später wirst du es zu
schätzen, zu würdigen und zu verstehen wissen.

Ferner, mein Junge, glaubst du sollen dürfen herausgemerkt
haben (eine richtige Sohnes-Spihfindigkeit), daß ich dich gerade
dann an irgend eine Beschäftigung anzuspannen liebe, wenn ich
weiß oder du mir zu verstehen gibst, daß du dich gern mit deinen
bevorzugten Kameraden im Freien, sei es im Wald oder sei es am
See, herumtummeln möchtest. So boshaft, meinst du, bin ich?
Und wenn auch? Sollen denn arme, sorgengeplagte Väter, stets
angespannt an den kläglichen, elendiglichen Täglichen-Brot-
Gedanken, nicht auch, zur Crheiterung und Abwechslung, sich kleine,
feine, reizende Bosheiten leisten dürfen? Bedenke das. Bedenke, wie
viele Sorgen ich habe, und du wirst generös genug sein, mir zu
erlauben, dich von Zeit zu Ieit ein wenig zu necken mit: „Du
spaltest jetzt hübsch Holz, verstanden!", sowie ich etwa merke, daß
du das Baden oder das Herumstreifen in den Gassen im Sinne hast.
Väter haben auch ihre Schwächen, merke dir das.

Ctwas sehr Seltsames, in der Tat Frappierendes sagst du,
indem du mir den Vorwurf machst, daß ich ja selber Sonntag-
nachmittag, zum schwarzen Kaffee, die Schundromane lese, die ich
geruhe, dir, dem Sohn, wenn ich dich beim heimlichen Lesen und
Verschlingen ertappe, um den Kopf herumzuschlagen. Doch du
bist im Unrecht, und dein Vorwurf ist eine Weinerlichkeit. Jch
werde fortfahren, dir die Romanlektüre zu verbieten, so gut, wie
ich fortfahren zu dürfen meine, sie mir persönlich zu gestatten.
Sei taktvoll und mißgönne nicht ein Vergnügen einem Menschen,
der anfängt zu altern, deshalb, weil es Pflicht dieses Menschen ist,
den Genuß dieses Vergnügens seinem Sohne zu versagen.

Jch gebe nun im allgemeinen von Herzen gern zu, daß ich deine
Crziehung ziemlich vernachlässige, doch ich mache mir deswegen
keine Sorgen. Sei versichert: deinen Weg durch das Leben wirst
du schon finden, denn es gibt Duhende Lebenswege, und jeder
Lebensweg führt ohne alle Frage vor das eherne, erzene Tor der
Unabänderlichkeit. Du wirst mir erlauben, ein wenig mit dir zu
philosophieren. Werde ein Philosoph, mein Junge, was sagen will,
bilde Tapferkeit in dir aus, und dann brauchst du gar nicht so viel
Erziehung, das Leben wird dich genügend erziehen, habe keineBange.
Sieh, wenn ich dich ein bißchen wild und unerzogen lasse, so taugst
du um so viel besser für das Leben; ungebildet lasse, so wird dich
um so viel besser das spätere Leben bildcn, striegeln, glätten und
plätten können; ungehobelt lasse, so wirst du dich um so besser
eignen für die Zurechthobelung und Polierung durch eben das
Leben, welches mit Vergnügen an den Menschen herumhobelt.
Die Welt, in welche du wirst zu sihen und zu stehen kommen, wird
Erzieher an dir sein und dich gründlich erziehen. Auch dafür, also
dafür, daß ich dich vernachlässigt habe, wirst du mir einst danken.
Bedenke, ich bitte dich, folgendes; und alsdann lasse mich ausruhen
vom Schreiben und diesen väterlichen Brief beendigen.

Nimm an, ich hätte dich mustergültig erziehen lassen: mit
was für einer furchtbaren Verantwortungslast auf Kopf und auf
Rücken würdest du dann dastehen. Denn wisse: eine wirklich und
in jeder Hinsicht gute, eine sogenannte glänzende Crziehung ver-

pflichtet, sie verpflichtet den Empfänger zu ihr entsprechenden
qlänzenden Leistungen, sie verpflichtet auch zu der glänzenden
Karriere. Sei du glücklich, mein Sohn, daß du wirst atmen durfen,
ohne immer nur an das Emporkommen denken zu müssen. Deme
mangelhafte Erziehung verpflichtet dich nicht zu dem Gespenste,
zu der Mustergültigkeit, zu dem fürchterlichen Müssen-m-,eder-
Hinsicht-Hervorragen. Frei wirst du sein. Cin Sohn der Natur,
ein Sohn der Welt wirst du sein. Atmen und leben wirst du durfen.
Die da musterhaft sind, die leben nicht, und hiermit grußt dich
überaus herzlich, im Bewußtsein, daß er dir etwas Dernünftiges
gesagt hat, dein Dater.

er Schulhof. Von Paul Gassert.

Cr gehört einer kleinen Privatschule neben dem Geschäfts-

viertel.

Nach drei Seiten hohe Häuserwände voller Fenster, die vierte
Seite bleibt dem Schulkasten; er ist angcklebt an ein hohes Ver-
waltungsgebäude, und an ihn klammert sich wiederum ein Stücklein
Gartenmauer, mit einer hohen, grämlichen, düsteren Tanne.
Und ich besitze eins von den 138 Fenstern, welche aus den Häuser-
wänden einst herausgesägt wurden und seitdem Mißtrauen säen.

Alle 138 Fenster bleiben geschlossen; das ist Tradition im Um-
kreis des Schulhofes. Vielleicht ist einst etwas hinuntergepurzelt,
etwas, das die Vogelperspektive nicht kannte und darüber den
Schreck bekam.

Nur um Zehn, haarscharf Iehn, wenn es läutet (vielmehr es
schellt präzis und böse) und die Schulkinder stürzen in den Hof,
durchbreche ich die Tradition der geschlossenen Fenster. Denn die
Schulkinder machen einen Fischbrunnen aus dem grauslichen Hof
oder auch eine blumige Wiese oder einen Meßplatz; sie schreien
durcheinander wie anderswo die Spatzen, sie bespritzen die Haus-
wände mit ihren Tollheiten.

Der Schulhof ist mein Theater; Tag um Tag entzückt mich
dies Spiel. Etwa wird hastig noch ein Logenfenster aufgerissen,
als wenn man sich verspätet hätte, doch ehe ich den Neuange-
kommencn firieren kann, schlägt das Fenster wiederum zu, so daß
es den Anschein eines Protestes gewinnt. Jedoch das Spiel im
Fischbrunnen geht weiter. Manchmal tritt hinter der Garten-
mauer, wo die grämliche Tanne steht, noch ein Hündlein auf und
bellt: heftig, unerschrocken. Droben, über den Dächern, hängt
ein blauer Himmel. Plötzlich schellt es wieder, zwanzig nach Zehn,
präzis und böse — und der ganze Spuk ist weg.

Drei öde Häuserwände, die sich anglotzen aus 137 geschlossenen
Fenstern, und der Schulkasten, vertrauensvoll angeklebt an das hohe
Verwaltungsgebäude; auch ich schließe meine Loge, um die Tradition
wiederherzustellen, und nun liegt der Umkreis des Schulhofes den
ganzen übrigen Tag in der vornehmen Ruhe einer Gebeinstätte.

rzählungen.

Wohl jede künstlerische Darstellungsmethode hat einen
gewissen, wenn auch vielfach nur begrenzten Anteil an absoluten
und ewigen Kunstgesetzen, wohl jede gibt besonders große Dar-
stellungsmöglichkeiten fürganz besondere Aufgaben. Auf der anderen
Seite erlebt jedes Naturwesen, wofern es nicht vorzeitig wegge-
rissen wird, eine gewisse Reife; ob es groß oder klein ist, zart oder
robust, aus saftig-fettem oder magerem Boden aufwächst, es er-
lebt seine Blüte. Jm Leben des Menschen, des Mannes wenigstens,
tritt diese Reife etwa mit dem vierzigsten Iahre ein und dauert
bis über die fünfzig hinaus; sie äußert sich bei dem Schriftsteller,
dem Dichter als eine im ersten Augenblick spürbare Leichtigkeit,
Größe und Süßigkeit, mit der die Darstellungsmittel verwandl
werden. Gegen die Gesamtmethodik der Darstellung, gegen die
Begrenztheit der Einsicht in menschliche Dinge mag auch in einem
svlchen Werk der Reifezeit noch so viel einzuwenden sein. Diese
Süße, die aus denJahren kommt, hat, wofern überhaupt künstlerische
Absichten vorliegen, ihre Wirkung so gut wie bei einer Frau, wie
bei einer Blume. Und wenn zwei Dichter wie Arthur Schnitzler und
Hermann Stehr darum jetzt im Alter der Reife neue Bücher heraus-
geben, mag an jedem mancherlei zu bemängeln sein; es wäre un-
recht, sich der persönlichen Reife zu entziehen, die sie trotzdem haben.

Das neue Buch, das Schnitzler veröffentlicht, * ist eine umfäng-
liche Novelle: Jm Mittelpunkt steht die Frau, die der Dichter von
jeher geliebt hat, die Frau in der letzten, HLchsten Reife, die, als
Witwe des männlichen Haltes beraubt, noch einmal allen sinnlichen
Eindrücken preisgegeben ist. Diese hier fällt in ihrer Derwirrung

* Frau Beate und ihr Sohn. S. Fischer, Verlag, Berlin.
 
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