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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 10
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Benn, Joachim: Kalewala und die Entwicklung der Poesie
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0353

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Kalewala und die Entwicklung der Poesie.

alewala und die

Entwicklung der Pvesie.

Schritt der Mond aus seiner Stube,
stieg auf eine krumme Birke,
schritt aus ihrem Schloß die Sonne,
setzt sich auf der Föhre Wipfel.
Kalewala: Siebenundvierzigste Rune.

Was ist Poesie? — Die Frage, die heute zeitgemaßer
ist, als es im ersten Augenblick scheinen mag, wird
sich beantworten lassen nur nach peinlicher Uberprüfung
solcher Stellen aus der Dichtung, die für das Gefühl des
Lesers in einer besonders starken und prägnanten Weise
als poetisch, als dichterisch wirken. Jn diesem bestimmten
und pragnanten Sinne poetisch nun erscheinen immer
nur Worte, Situationen und Szenen von einer gewissen
Gehobenheit des sprachlichen Ausdrucks und der ganzen
Gesinnung, die daraus spricht. Das Charaktcristische
solcher Stellen ist eine gewisse Loslösung von der engen,
der rein sinnlich praktisch erfaßten Realität, die gemeinhin
dem täglichen Leben zugrunde liegt, eine Erhebung über
die einzelnen, die vielen Schmerzen des Daseins hinaus
in eine überlegene Sphäre, in der die Dissonanzen
aufgelöst sind, weil sie, großartig zusammengefaßt, in
den Gesamtakkord des Lebens hinübergeleitet werden,
der durch solche Komplikation nur reiner und größer
aufklingt. Als Form am ausschließlichsten auf diesen
gehobenen Ton gestellt ist die Lyrik, und sie gilt auch als
die reinste Form der Poesie. Aber in der Lyrik gibt es
wieder Stellen, in denen die Poesie am lautecsten und
reinsten zusammenfließt, und das sind die dichterischen
Bilder, Vergleiche, Metaphern, in die sie unaufhörlich
ausläuft.

Was ist die Metapher? —Deutung einer Erscheinung
wird man sagen dürfen, nicht durch eine abstrakte Er-
klärung, sondern durch einen Vergleich, deutende Um-
setzung einer Erscheinung in eine andere. Doch beruht
die Schönheit, die für das Gefühl des Lesers solch ein
gelungenes Bild hat, nicht eigentlich auf der Deutung
an sich, auf dem Jnhaltlichen des Vergleiches gleichsam,
sondern auf der Tatsache, daß solch eine Vergleichung
und Verknüpfung verschiedener Dinge überhaupt möglich
ist: Ein Gesetz, ein Lebensprinzip, ein letzter magischer
Lebensablauf liegt, so predigt jede Metapher, allem
Leben zugrunde, so vielfältig es dem äußeren Auge
erscheint. Jn, unter der außerlich realen Welt, in ihrem
höchsten schwindelndsten Fluge erkennt sie es am besten,
liegt eine andere, allgemeinere Welt; darin ist der Mensch
allem Natürlichen verknüpft und gehört mit zu dem
magischen Lebensvorgang, der als ein ewiger geisiig-
chemischer Prozeß vor dem inneren Auge steht. So ist
Poesie Aufrufung des Allgesühls in das tägliche, auf
außere, sinnliche Erfahrung gestelltes Leben. Jhre Be-
deutung für den Menschen liegt, wie bei der Religion
darin, daß sie ihn, der durch sein Denken immer in Gefahr
ist, sich aus der übrigen Welt loszulösen und dann an
seinem Sonderschicksal zu verzweifeln, aus die unmittel-
barste Weise immer wieder in das übrige Leben hinein-
zieht und seine Leiden mindert, indem sie sie als geheim-
nisvoll-tiefes Gesetz alles Lebens aufweist.

Es ist schon gesagt worden, daß die verschiedenen For-
men der Dichtung in verschiedenem Maße poetisch oder
doch reine Poesie sind. Die reinste Form stellt die Lyrik
dar, die fast ganz auf der Metapher beruht, Metapher
ist; auch sie enthält wohl einen logisch-abftrakren Ge-
dankengang, aber sie gibt ihn als eine Kette von Bildern,
durch die er sich im Gedächtnis hält. Die übrigen Formen
der Dichtung, angefangen von Mythos und Mysterium,
Märchen und Legende, Sinnspiel und Fabel, die noch
immer stark symbolisch sind, bis hinunter zum realistischen
Erlebnisbericht, verlieren langsam an metaphorischer
Form. Sie bilden gleichsam eine Pyramide; je tiefer
darin eine Form steht, um so mehr umfaßt sie von der
Breite des Einzellebens, um so weniger bildet sie es
metaphorisch um. Natürlich bleibt, wo überhaupt von
Dichtung gesprochen werden kann, ein Rest metaphorischen
Wesens noch in der direktesten und realistischsten Dar-
stellung; denn der Held einer Geschichte repräsentiert
niemals allein sich selbst, sondern den Menschen an sich,
zum mindesten einen Typus, auch die Vorgänge
werden nicht um ihrer selbst willen wiedergegeben,
sondern als Symbol des magischen Grundprozesses
hinter allem sichtbaren Leben. Jn diesem Sinne kann
auch ein Gedicht ohne eine einzige Einzelmetapher im
ganzen doch noch Metapher, Symbol sein. Die historische
Entwicklung ist dabei so verlaufen, daß sie von der rein
metaphorischen Form zu immer weniger metaphorischen
geführt hat. Die Entwicklung ist gleichsam langsam
die Pyramide hinabgeglitten, ohne daß einmal ent-
standene Formen je ganz verschwunden wären:

Die Poesie der Vorzeit ist noch rein metaphorisch;
durch keine abstrakte Erkenntnis von der übrigen Welt
losgerissen sieht der Urzeitmensch das Leben noch ganz
einheitlich: Naiv überträgt er zuerst das Wesen des Men-
schen auf die Natur und Dingwelt und stellt dann deren
Leben unter dem Bilde menschlicher Schicksale dar.
Rätsel, wie sie mit am Anfang der germanischen Dichtung
stehen, sind nichts anderes als halb ausgesprochene
Metaphern; die ersten großen Mythen symbolisieren
allenthalben Naturvorgänge als menschliche Hand-
lungen. Die mittelalterliche Poesie steht in der Mitte der
Entwicklung; der Form nach ist sie, im Märchen, in der
Legende, im Mysterium und Lied, noch vielfach stark
metaphorisch, aber die Metapher verbildlicht hier nicht
mehr rein natürlich Gesehenes, sondern die symbolischen
Handlungen illustrieren eine abstrakte Weltanschauung,
ein Sittengesetz. Die mittelalterliche Dichtung glaubt
in gewisser Weise noch an eine Einheit der Welt, aber
sie ist doch schon ethisch — moralisch und also speziell
menschlich; nicht mehr Natur wird dargestellt unter
menschlichem Bilde, sondern eine moralisch gefaßte
Menschenwelt unter dem Bilde von Menschen und
symbolischen Naturvorgängen.

Die Poesie der letzten Jahrzehnte schließlich ist —
immer die Wenigen ausgenommen, die, halb epigonisch,
halb wirklich groß, zurückgreifen — kaum noch meta-
phorisch, sondern gibt die Dinge in realistischer Spiege-
lung. Der innerste Grund davon ist, daß sie wirklich
naiv nicht mehr an die Einheit des Lebens glaubt, oder
doch wenigstens nicht in einem Sinne, daß sie alles
Leben gleichsam auf menschlicher Höhe sähe: Darum
 
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