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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 3
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Lissauer, Ernst: Aus den Schriften Emil Kuhs
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Walser, Robert: Vier Sachen von Robert Walser
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0116

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Aus den Schristen Emil Kuhs.

auch in der Gesamtauffassung dcr Menschen und Dinge
offenbaren, zumal in der Art und Weise, wie die sitt-
lichen Fragen behandelt werden. Und hierin ist Keller
bewunderungswürdig. Recht und Unrecht, Gut und
Böse treffen uns in seiner Darstelümg wie Natur-
phanomene, die weder pädagogisch noch geistlich ge-
richtet, sondern nach der jedesmaligen Verantwortlich-
keit festgestellt werden können. Denn das gleiche Ver-
gehen, heißt es einmal in dem Buche, kann bei dem einen
Menschen fast unbedeutend sein, während es für den
anderen eine Sünde ist; ja für ein und denselben Menschen
ist es zu der einen Stunde unverzeihlicher und schwerer
als zu der anderen Stunde. Was aber Keller hier mit
nackten Worten ausspricht, das weiß er in den ver-
schiedensten Lagen seiner Personen, ohne scheinbar selbst
die Lippen zu bewegen, anschaulich zu machen mit ge-
lassener Ruhe. Der Kontrast zwischen solcher epischen
Ruhe der Erzählung, welche, wie der Stundenzeiger,
langsam, stetig und unmerklich vorrückt, und der hastigen
Eile wechselnder, ewig ineinander spielender Iustände,
welche dem laufenden Sekundenzeiger ähnlich sind, bildet
einen nicht unwesentlichen Reiz des wundersamen Buches.

(Uber Kellers „Sieben Legenden".) Dabei gc-
ivann er den unschätzbaren Vorteil, mit den Lichtfäden
sciner Laune die frommen Gemälde fortwährend zu
durchflechten und der Erdenfreude ihr Wort, wie ihr
Recht zu gönnen, wann und wo es ihr gefällt. Wenn
in der Mehrzahl der eigentlichen Kirchenlegenden die
Weltlust einem Weizenfelde gleicht, in welchem das
Überweltliche den Dienst der Vogelscheuche versieht, so
gleicht die Weltlust in Kellers Marienlegenden den
kecksten der Vögel, welche sich an das abschreckende Büschel
auf der Stange nicht kehren und munter picken, wo ein
Korn sie lockt.

(Über Uhlands Lyrik.) Wie Brot und Wein, die
er in erquickenden Versen besungen hat, mutet uns seine
Dichtung an. Sie verbirgt den Lurus der Kunst und
täuscht uns den Aweck bloßer Nahrung vor.

(Über Storms Lyrik.) Die Physiognomie dieser
Gedichte ist eine heilige Alltäglichkeit. Die Werkeltags-
stimmung eines Gemütes, das keines Festgewandes be-
darf, um schön, keines besonderen Anlasses, um bewegt
zu sein, haucht uns aus allen Liedern an. Sie lächeln
oder sind guter Dinge, wenn längst die Küchweih vorüber
oder wenn noch lange hin ist auf sie, sie weinen bitterlich
in die Hände oder sie senken bekümmert das Haupt,
wenn die Trauerkleider schon abgelegt oder der Kummer
schon „verjährt" ist; die gewöhnliche Sonne, die das ge-
wöhnliche goldgelbe Feld bescheint, der allbekannte
Sommerabend, von dem kein Mensch ein Aufhebens
macht, die allbekannte Licbe und der allbekannte Schmerz,
zu denen die Leute von jeher in die Schule laufen, ohne
was Erkleckliches darin zu lernen: solcherlei Alltägliches
finden wir in den Gedichten von Theodor Storm — und
dennoch haben wir dergleichen niemals gehört und ge-
sehen. Jn ihrer Sorglosigkeit, das zu sagen, was ihnen
einfällt, in ihrer Schlichtheit, wonnt sie es sagen, wurzelt
eben ihre Originalität. Die poetische Mittelmäßigkeit
freut sich jetzt ihres alltäglichen Auges, den man ihr so
oft hat vorgeworsen, und wir wollen sie aus ihrer Täu-
schung gewiß nicht wecken. Doch hingewiesen sei auf das

neulich in diesen Blattern ausgesprochene Wort: wie
die Natur dafür sorge, daß ihr Einfachstes nur von jenen
gefunden werde, die sie am reichsten ausgestattet habe.
Wortkarg sind diese Lieder, ohne lakonisch zu sein, von
einer reinen und beherzten Sinnlichkeit, welche nie zu-
dringlicher ist als die Natur selbst und welche alles Un-
nötige wie mit dem Verstand der Biene ausgeschieden
hat. Der Liederton ist all den Gedichten so eingeboren,
daß er in der Vorstellung des Lesers zu der der Wirklich-
keit allein gemäßen Sprache wird, und der lyrische Quell-
punkt ist von vornherein schon mit den ersten Versen
bestimmt wahrzunehmen, so daß uns der poetische Ge-
danke nicht mit den verschiedenen Möglichkeiten beun-
ruhigt, sich andere Formen als die eben werdenden
bauen zu wollen oder zu können.

(Über Mörikes Lyrik.) Von der Romantik hat sie
etwas Schwankendes und Schwebendes, gleichsam den
Schleier der geschichtlichen Iwischenzeit entlehnt, nicht
das Kolorit, nicht die Formen; vom Himmel der Griechen
und von ihrer Kunst die Durchsichtigkeit des Lichtes und
die schöne Strenge der Umrisse. Die keusche, niemalö
jedoch furchtsame Sinnlichkeit Mörikes ist nicht zu dicht
am Begehrlichen weggehoben, aber auch nicht im Ge-
ziemenden gefessclt. Seelisches und Bildliches fallen
einander taktvoll, wenn ich so sagen darf, ins Wort;
darum schmilzt das eine nicht in lyrischen Ergüssen dahin,
darum erstarrt das andere nicht zu Platenscher Plastik.
So nach vollkommenem Bedürfnis sich im Gefühl netzen
und so rasch ini Auffluge durch die sonnige Luft, vogel-
gleich wieder trocken werden, das hat seit Goethe kein
Lied außer dem Mörike'schen zu leisten vermocht.

ier Sachen von Robert Walser.

Der Träumer.

Es lag einer im Grase auf einem kleinen Abhang
am Waldesrande. Vor ihm lag eine gemähte Wiese
und hinter ihm standen ernste alte Tannen wie treue
Schützer und Wächter. Vormittag war's, und eine
freundliche milde Sonne schaute aus weißlichem Gewölk
warm auf den Faulpelz herab, der die trägen Glieder
so lang als er konnte auf dem weichen Boden ausstreckte.
Über seine Beine, seinen Rücken und sein Gesicht krochen
Ameisen, und Mücken tanzten um ihn herum. Das
plagte und ärgerte ihn aber nicht im geringsten. Er
lag da, als beabsichtige er, den ganzen lieben langen Tag
zu verfaulenzen, und in der Tat, cr trug derlei Absichten.
Die Welt sah so leicht aus, so bläulich, so sorgenlos.
Höchstens glich ein feiner Dunst am Himniel einer Art
von Kummer, aber der Kummer selber machte sich nicht
gar viel Gedanken. Eine Beigabe von Ernst macht die
Fröhlichkeit nur fröhlicher,und ein leiser Schmerz versüßt
und verfeinert die Freude, macht sie nur noch freudiger.
Unserem Burschen und Tagedieb zu Häupten hingen
ein paar Tannzapfen und ärmelartige Tannzweige,
und noch weiter oben, nämlich am Hinimel, schwebten
weiße heiße Wolken. Er träumte, der hier lag. Gab
es keine Pflichtcn für den Lümmel? Ei was, Pflichten!
Braucht doch nicht jeder Mensch Pslichten zu haben.

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