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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 1
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Reisiger, Hans: Jugend
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Lewin, Robert: Das Drama und die Tat
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0043

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Jugend.

die aber schon der Schmerz dieses Lächelns glitt. Christian
suchte den Blick auszuhalten. Er biß die Iähne zu-
sammen und dachte nur dies eine: „Du bist mir die
Welt! Du bist mir mehr als das Leben! Vor der Nähe
des Todes soll mir nicht grausen, wenn du mich dahin
führst!" Aber er fühlte mit kaltem Schauder, daß er
nicht vermöchte, einen Schimmer fremden Entsetzens,
einen von Anbeginn gehüteten Aweifel in seinem Blick
zu verbergen. Er sah plötzlich, wie Tränen aus den
Augen Marias rannen und über ihre Wangen liefen.
Die Gegenwart Dohrns brannte ihn. Ierrissen von
Aorn, Liebe, Mitleid, stürzte er zu ihr, ergriff ihre Hand
und bedeckte sie mit Küssen. „Jch führe dich ins Haus!"
sagte er heftig. Sie gingen zu dritt ein Stück zurück.
Christian machte sich leidenschaftliche Vorwürfe darüber,
daß er Maria zum Spielen ermutigt hätte. „O nein,
nein," sagte sie leise und lebhaft, „das war ganz mein
eigener Wille."

Tief aber und herrisch drängten sich Stimmen heißer
Qual und peinvoller Abwehr in Christian zum Wort:
„Führst du hier deine Aukunft hin? — Bindest du dich
hier für dein ganzes Leben an dieses zerstörende Mit-
leiden? Gibst du dein Fleisch und Blut zum Opfer
auf diesem Altar? — Worum hast du dein ganzes Leben
hindurch gerungen, wenn nicht um innere Freiheit und
Klarheit? Für den glanzvollen Frieden, in dem allein
Seele und Geist reifen und fruchtbare Arbeit gedeihen
kann? — Rette dich von hier, rette dein Bestes, die
Ganzheit deines Wesens, nimm Reue, Schuld, Scham
auf dich, aber bleibe dir treu! Gib nicht um die Süßig-
keit dieser Liebe die herbe Frucht deines Selbst hin,
ehe sie noch reifen konnte!"

. Er schlug diese Stimmen nieder, wie mit der Faust,
wild und grimmig. Aber sie erhoben sich immer wieder,
von einem Baum des Weges zum andern bekommen
sie immer wieder Atem und Kraft, sie schrieen, befahlen,
jubelten.

„Stürze hinweg wie aus Flammen! Du hast keine
Gewalt über Leben und Tod, über Gesunden und Ver-
gehen, du hast nur dich selbst, rette dich und brauche deine
unversehrten Kräfte gegen die erdrückende Fülle des
großen, allgemeinen, unpersönlichen Mitleids! gegen
die schweren Forderungen, die im Namen der Mensch-
heit gestellt werden!"

„Feigling!" schrie es dagegen, „vor dem Mitleid mit
einem einzigen Wesen schon weichst du ängstlich aus,
vor dem eigenen Schmerz schleichst du dich hinweg!
Was willst du für die Menschheit tun?"

„Schmerz" — riefen die Stimmen — „sollst du zur
Genüge mit dir nehmen, dunkle Fülle für jeden Tag
und jede Nacht; vor dem Schmerz fliehst du nicht!"

„Sie wird sterben," rief er, „sie wird es nicht er-
tragen, wenn ich sie verlasse; wie kann ich diese Schuld
auf mich nehmen!"

„Umsonst und ohne Buße wirst du hier nicht ent-
lassen!" herrschten ihn die Stimmen an, „zahlen muß
ein jeder, der soviel erhalten und verlangt wie du!
Kämst du um ein Nichts davon, was wäre deine Flucht?!
— Jetzt und hier: Halte dein Herz fest, wie einen Kriegs-
gesellen, entspringe mit ihm durch Furcht und Tod!
Sei frei!"^—

Blitzartig, von Liebe beglänzt, glitt ein Bild, eine
Erinnerung durch seinen Sinn: der Abschied aus
Sesenheim.

Christian Holth war es, als taumelte er. Er mußte
einen Augenblick stillstehen. Er sah Maria nicht an.
Er hätte die Begegnung ihres Blickes nicht ertragen
können. Er hörte nur, wie sie plötzlich sagte, jemand
müsse ihrem Vater mitteilen, wo sie geblieben sei, er
würde sich sonst ängstigen. Ob Herr Holth nicht zurück-
kehren und es ihm sagen wolle, der Baron würde sie
ins Haus bringen.

„Recht! recht!" schrie eine grimmige, eifersüchtige,
kindische Stimme in Christian. „Gehe nur mit dem
zärtlichen Kerl, mit dem ekstatischen Mönchsgesicht,
heirate ihn! Das Klageweib!" Er stand und wandte
sich zurück. Er sah Maria mit Dohrn um die Ecke ver-
schwinden. Jhr Haar leuchtete noch einmal, ihr schlankes
hellgrünes Kleid schimmerte noch einmal durch die
Büsche. Jhr Kopf war leicht gesenkt.

Au ihr! Noch einmal ihr zu Füßen! Sie um Gnade
und Vergebung flehen! — Aber er sprang, wie in
wildem Traum, fast lachend, dem Tode Hohn lachend,
über einen breiten Graben, hinüber in das Gestrüpp,
in den Wald, er rannte wie ein Knabe, keuchend, glühend,
sich mit den Händen von den Stämmen abstoßend,
denen er zu nahe kam, er sah die Wipfel gegen den
Himmel sich sträuben, sah die Erde quillen von Moos
und Pflanzen, dann kam er atemlos im Hause an,
stürmte ins Iimmer, packte wie rasend seine Sachen,
er selbst lief zu Fuß noch stundenlang, bis zu einer
andern Bahnstation, von dort fuhr er in die Stadt
zurück. Noch in derselben Nacht schrieb er ein paar
abgerissene Aeilen an Maria und an seinen Vater.
Wenige Tage danach fuhr er zu ihm. j

as Drama und die Tat.

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' Macbeth. II. 2. 73.

Awei Momente beherrschen alles dramatische Schaf-
fen: Retardation und eine gewisse Dialektik oder auch
Sophistik. Um zu Beginn jedem Mißverständnis zu be-
gegnen — der Dramatiker muß die Handlung retardieren.
Doch nicht einem dramaturgischen Prinzip zuliebe, etwa
um kunstreich zu einer Peripetie zu gelangen. Er muß
retardieren, weil in ihm erst menschliches Handeln sich
in seinem höchst problematischen Charakter darstellt. Und
um dieses gerade zu deuten, muß er die krausen Pfade
dialogischen Witzes durchwandern. Wie ja auch die dra-
matische Tat ihren Weg durch ein Labyrinth nur ins
Freie findet.

Denn erplosiv, wie die Natur sich uns bietet, wie auch
menschliches Handeln sich im nackten Leben darstellt,
darf es im Drama nicht sein. Naturvorgänge, Nelationen
von Stoß und Fall, Mechanismen; der dramatische
Dichter weiß nichts mit ihnen zu beginnen. Ein psycho-
logischer Determinismus vernichtet alles dramatische
Element. Die Kunst ist in ihrer eigensten Natur Gegnerin
des determinierten Willens. Für den Dramatiker gibt

Zl
 
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