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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 2
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Franck, Hans: Das Drama Heinrich von Kleists
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0073

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as Drama Heinrich von Kleists.*

Es ist männiglich bekannt, daß die Künstler-
sehnsucht des Dramatikers Heinrich von Kleist
in dem Wollen gipfelte, die Antike und die Moderne,
die schöne und die charakteristische Linie, die wirklich-
keitläuternde und die wirklichkeitwahre Kunst, mit
zwei Worten: Sophokles und Shakespeare in seinem
Lebenswerk zu vereinigen. Wie zu jedem aus tiefster
Zeitsehnsucht geborenen Schöpfer hat auch, soweit eS
Tat geworden ist, zu diesem Begehren Heinrich von
Kleists schon seine Aeit das letzte Wort gesprochen. Nur
daß es nicht aus einem Munde kommt, sondern aus
zweien; nur daß der Jubelruf des Überwundenen mit
so mächtig aufwärtsreißender Entzückung beschwingt,
das Urteil des Sichversagenden mit so aggressiver Ten-
denz, so verallgemeinernder Apodiktik beschwert ist,
daß es unmöglich scheint, sie, was doch Aufgabe und Aiel
der Nachgebornen ist, durch Entladung des nach ent-
gegengesetzten Seiten strebenden Persönlichkeitsüber-
schwanges auszugleichen. Als es Wieland nach vielem
Bitten und Bestürmen endlich gelungen war, seinen ver-
schlossenen Gast Heinrich von Kleist eines Nachmittags
am Kamin „treuherzig" genug zu machen, daß er ihm
einige Szenen seines Guiskard „mit großem Feuer vor-
las" und der Alte so entflammt wurde, daß dem Dichter,
der sein eifersüchtig gehütetes Kind nun doch dem Blick
eines Menschen preisgegeben hatte, nach seinen eigenen
Worten die Sprache verging, und er zu seinen Füßen
niederstürzte, seine Hände mit heißen Küssen über-
strömend: da faßte Wieland den ungeheuren Lebens-
eindruck in die denkwürdigen, nun nie mehr zu um-
gehenden Worte: „Wenn die Geister des Äschylos,
Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tra-
gödie zu schaffen, sie würde das sein, was Kleists Tod
Guiskards des Normannen, sofern das Ganze dem-
jenigen entspräche, was er mich damals hören ließ. Von
diesem Augenblick an war es bei mir entschieden: Kleist
sei dazu geboren, die große Lücke in unserer dramatischen
Literatur auszufüllen, die nach meiner Meinung
wenigstens selbst von Schiller und Goethe noch nicht
ausgesüllt worden ist." Goethe aber, wie Adam Müller
bekennt, der einzige Richter, auf dessen Urteil es Kleist
ankam, Goethe, dem der Dichter das erste Phöbusheft
mit dem Anfang der Penthesilia mit ungewissen Händen
auf den „Knieen seines Herzens" darbrachte, Goethe,
dem der Nachfahr, nicht aus menschlich eitlem Ehrgeiz,
sondern aus dem Künstlerbewußtsein heraus, als
Dramatiker ein Neues, ein Größeres zu wollen, den
Kranz von der Stirne reißen wollte, Goethe schrieb
anläßlich des Amphitryon über die Lebenssehnsucht seines
künstlerischen Widersachers die nachfolgenden, Kleist tief-
bewegenden Worte: „Nach meiner Einsicht scheiden sich

* Für diesen Aufsah bin ich vor allem verpflichtet: Otto
Brahms Biographie Heinrich von Kleists, die unlängst bei Cgon
Fleischel L Co„ Berlin, in vierter, vkllig umgearbeiteter er-
weiterter Fassung erschien, Paul Crnsts scharfumrissenem Aufsatz
„Die Möglichkeit der klassischen Tragödie" (in seiner programmati-
schen Essaysammlung „Der Weg zur Form", Leipzig, Jnsel-
Verlag) und der tiefgründigen, mehr philosophisch als ästhetisch
determinierten Untersuchung Georg von LucLcz' „Methaphysik
der Tragödie" (Heft 1 des vorjährigen zweiten Bandes der Ieit-
schrift „Logos").

Antikes und Modernes auf diesem Wege mehr, als daß
sie sich vereinigten. Wenn man die beiden entgegen-
gesetzten Enden eines lebendigen Wesens durch Kon-
torsion zusammenbringt, so gibt das noch keine neue Art
von Organisation; es ist allenfalls nur ein wunderliches
Symbol, wie die Schlange, die sich in den Schwanz
beißt." Und aus dem starken Klarheitsbedürfnis heraus,
das ihn allezeit beherrschte, entwarf er für sich zwei
Schemata, um in linearer Darstellung die Unvereinbar-
keit, die für ihn wesensnotwendige Aweigipfeligkeit
jedes Versuches der bezeichneten Vereinigung fest-
zuhalten.

Es dürfte, um zu dem wenn uns später Geborenen
auch naturgemäß erleichterten, doch keineswegs mühe-
losen Ausgleich dieser beiden prononciertesten Urteile
zu gelangen, die über Kleist möglich und denn auch in
tausendfachen Abschattierungen immer aufs neue wieder-
holt sind, es dürfte nötig sein, erst einmal Kleists Dramen
im Hinblick auf das mit ihnen Tiefstgewollte schnell
Revue passieren zu lassen. Mit dem ihm eigenen Un-
gestüm hat Kleist, der immer alles oder nichts wollte,
der, wo ihm das Höchste versagt wurde, auch das Viele,
das er in Händen hielt, in blindem Aorn fortwarf,
gleich im ersten Anlauf sein letztes Aiel zu erstürmen, zu
ertrotzen versucht und sich selbst mit einer maßlosen Geste
so völlig für das Gelingen eingesetzt, daß das Ergebnis
eine Katastrophe werden mußte. Unmittelbar nach dem
in seinen Voraussetzungen und seiner Lösung unmög-
lichen, trotz vorspukender Genialität noch halbdilettan-
tischen Erstling, der Familie Schroffenstein, die der
Dichter, die panegyrische Kritik in Kotzebues Freimütigen
mit Überlegenheit abweisend, bald eine elende Scharteke
nannte, sofort nach diesem Aufallsversuch eines noch in
der Dumpfheit des Unbewußtseins Befangenen, hat
Kleist zu dem allerhöchsten der Kränze aufgestrebt, die
vor seinen Augen hingen. Gleich sein wahrhafter Erst-
ling, gleich Robert Guiskard, sollte jene organische Ver-
einigung der beide!r bislang zur Vollkommenheit aus-
gebildeten Stile des Dramas, der Griechen und Shake-
speares, erzwingen, sollte die in seinen Augen notwendige
Synthese des Antiken und Modernen darstellen. „Ein-
halbtausend hintereinander folgender Tage, die Nächte
der meisten mit eingerechnet", setzt er an den vermessenen
Versuch, den letzten Schritt beim Beginn eines im Un-
absehbaren verlaufenden Lebensweges zu tun, und — —
versagt. Jn Paris liest er sein Werk, soweit es fertig
ist, durch, verwirft, verbrennt es und fühlt, daß es aus
mit ihm ist, daß nur der Tod Erlösung bringen kann. Der
Dramatiker Heinrich von Kleist ist bei dem Versuch,
sein ureigenstes Wollen in die Erscheinung, in ein künst-
lerisches Gebild umzusetzen, gescheitert. Ob aus sub-
jektiven Gründen heraus? Aus Gründen, die in seiner
Begabung, die im Aeitlichen, Aufälligen, bei anderen
Bedingungen Uberwindbaren wurzeln? Ob aus ob-
jektiven Gründen heraus? Aus Gründen, die im Ewigen,
in der Notwendigkeit, im bei allen Voraussetzungen Un-
erzwingbaren verwurzelt sind? Der Dichter ist ohne
Frage der ersten Ansicht. So heißt es in jenem Schreiben
an die vielgeschmähte, vielumworbene schwesterliche
Lebensgenossin Ulrike, das mit der tiefbewegenden
Versicherung anhebt, daß er für jeden Buchstaben eines
Briefes, der anfangen könnte: „mein Gedicht (eben

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