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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 3
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Lissauer, Ernst: Aus den Schriften Emil Kuhs
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0111

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us den Schristen Emil Kuhs.*

Ausgcwählt von Ernst Lissauer.

Vorbemerkung. Emil Kuh war bis vor wenigen
Jahren fast verschollen: seine Bücher waren vergriffen,
erst 1907 wurde sein Hauptwerk, die Hcbbelbiographic,
zum zweiten Male aufgelegt, weil seine Schriften gesetz-
lich frei wurden und somit die Gefahr bestand, ein
anderer Verleger könne sie nun nachdrucken. Eine Aus-
wahl aus seinen verstrcuten kritischen Schriften erschien
dann, überhauptzum erstenMale, 1910 von dem
Zürcher Privatdozenten Dr. Alfred Schaer heraus-
gegeben, im Verlage des Literarischen Vereins zu Wien.
Die weiter unten abgedruckten Satze sind zum Teil aus
diesem Bande genommen, zunc Teil aber aus einer
Abhandlung „Über neuere Lyrik", die 1865 in einer
Wiener Ieitschrift und dann als Sonderdruck erschien.

Jhren Schluß habe ich im Märzheft der Monats-
schrift „Die Tat", Jahrgang 1913, allgemein zugäng-
lich gemacht; an gleicher Stelle findet sich auch eine
ausführlichere Charakteristik Kuhs von mir, mit weite-
ren Aitaten im Tert. Die meisten der hier wieder-
gegebenen wesentlichen Sätze sind für Leute, die
nicht Mitglieder des Wiener Vereins sind, nicht er-
reichbar; etliche aber überhaupt nicht, da sie jener
Broschüre über Lyrik entstammen, die gegenwärtig nur
auf wenigen Bibliotheken vorhanden, von der aber ein
Eremplar in meinem Besitz ist. Ein vollständiger Druck
dieser Broschüre würde sich deswegen nicht verlohnen,
weil nicht wenige der besprochenen Bücher und Autoren
verschollen sind. Und das ist überhaupt wohl mit ein
Anlaß gewesen, daß Kuhs Schriftcn, deren Sammlung
schon Bächtold in seiner Biographie Gottfried Kellers
anriet, bislang nicht in einer öffentlichen Ausgabe zu-
sammengestellt worden sind. Jndessen ist hier einmal
der seltene Fall eingetrcten, daß dic kritische Betrachtung
Wert behalten hat über das Werk hinaus, das sie ver-
anlaßtc, und das war nur möglich, weil Kuh über dem
einzelnen Fall das Symptomatische erblickte, weil er
eine große, geordnete Gesamtanschauung besaß und aus
ihr heraus urteilte, wcil er Ausammenhänge sah und
die Kunstiverke auch ats Teile großer Verknüpfungen.
Kuhs Kritik ist überindividuelle Kritik und symbolische
Kritik. So ist es möglich, Säffe aus seinen Schriften
zu lösen, die von dem verschollenen Jndividtluni
— Dichter oder Dichtcing — absehen. Jn anderen
Sätzen aber hat er Wesentlichstes formuliert über Dichter,
die er schon damals völlig erkannt hat, die aber erst in
tmseren Tagen gleichermaßen voni Bewußtsein der Ge-
samtheit anerkannt worden sind: über Keller, über
Mörike, über Hebbel, über Storm. Er gehört ats Kritiker
durchaus zu jener Generation, der, bei aller Verschieden-
heit der Einzelnen, gemeinsam ist die Vereinigung des
Realen mit dem Visionären und die Abwesenheit alles
Außenseitertums: symbolischer Realismus. Jn diesen
Tagen, wo eine unromantische, auf solche synibolische
Gestaltung und Deutung zielende Generation visionärer
Wirklichkeitsdichter vordringt, erwächst in diesen bedeuten-

* Die in Klammern beigefügten Titel stamrnen nicht von

Kuh.

den Schriften Kuhs eine starke helfende Kraft. Und so
glücklich ist der Aufall, der Momcnt so präzise getroffen,
daß man fast an eine geschichtliche Fügung glaubt, als ob
der Geist dieser aus tiefstem Drange der Aeit erquillenden
Bewegung diese Schriften auf eine zufällig erscheinende
Art aufgeweckt hat. Alle Notwendigkeiten der geistigen
Geschichte erscheinen ja in der Form des Aufalls. Au
gleicher Aeit nun sind auch, gleichfalls zuni ersten Male,
Storms kritische Schriften crschienen, die niit denen
Kuhs auss innigste verwandt sind: auch über Storm
als Kritiker wird in diesen Blättern zu berichten scin.
Storm und Kuh waren nahe befreundet; Stellen aus
ihrem bedeutsamen Briefwechsel, der in einer Aeit-
schrift seit Jahrzehnten vergraben liegt, sind zum ersten
Male in den Anmerkungen zu Storms kritischen Schrif-
ten mitgeteilt, unter anderem auch die kluge Rezension
Kuhs über Storms „Hausbuch deutscher Dichter seit
Claudius", die erste wirklich künstlerische Anthologie
lyrischer Dichtungen, die in deutscher Sprache erschienen
ist. Auch diese Stormschen Schriften sind für uns Hilfs-
truppen, und es erscheint wiederuni seltsam, daß auch
sie im günstigen Ieitpunkte gesammelt werden.

Was hier mitgeteilt, was in der Wiener Auswahl
zusammengestellt ist, all dies sind nur geringe Teile des
Kuhschen Werkes. Seine Bücher sind: die umfang-
reiche Biographie Hebbels, in der aber auch HebbclS
Ieit dargestellt ist, und der Band „Awei Dichter Östcr-
reichs", über Grillparzer und Stister. Sonst aber sind
noch zahlreiche Aufsätze und Rezensionen vorhanden,
und es darf ausgesprochen werden, daß alles interessant
und sogar bedeutend ist, was er publiziert hat. Er war
eben eine originale und tiefe Persönlichkeit, zudem voll
des leidenschaftlichsten Jnteresses für Schrifttum, durch-
aus kein Schreibtischliterat, aber ein Kritiker von Geblüt,
ein ästhetischcs Organon, ein großcs Talent dcr Rezcp-
tion. Storni nennt ihn „einen genialen Kritiker", und
wenn auch seine Darstellnng Hebbels als Ganzes so
hohe Wertung nicht ertragt, so ist seine kritische Gestal-
tung wahrhaft reich an genialen Aügen, Formulierungen,
Durchblicken. Durchaus eines waren in ihm der lesende,
der formende, genießende, urteilende und der schreibende
Mensch, und so sind auch seine Briefe voller bedeut-
samer und bildhafter Aussprache. Einiges davon ist
bekannt geworden, bei weitem nicht alles, aber bereits
das verhältnismäßig Wenige bezeugt den stets bereiten
Reichtum, die stets bereite Aufnahme- und Spendekraft
dieser Natur. Wie ein Dichter auch in seinen Briefen,
Dichter ist und in in den Gesprächen und Sitten seines
Alltags, so ist dieser Kritiker eine ästhetische Natur
nicht nur am Schreibtisch. Jn Briefen Kuhs an Keller,
die wieder der Herausgeber der Wiener Sanimlung,
l)r. Schaer, im Aürcher Taschenbuch, auf 1904 und auf
1905, verdienstlich herausgegeben hat, finden sich Äuße-
rungen, die seine Darstellung des „Grünen Heinrich"
ergänzen, aber nicht arabeskenhaft, sondern gleich
Ringen des Wachstums, organisch verfasert mit dem
zentralen Marke.

Die wirklichen kritischen Naturen sind so selten wie
die wirklichen dichterischen, bcide Male das Wort in
ganz hohem Sinne genommen: Naturen pur aus ästhe-
tischer Substanz gemacht. Hicr dichterischer, hier kriti-
 
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