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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 10
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Benn, Joachim: Kalewala und die Entwicklung der Poesie
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0354

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Kalewala und die Entwicklung der Poesie.

ist zuerst das Tier und die Pslanzenwelt darin ver-
schwunden, wenigstens in Gestalt sprechender Handlungs-
träger; sie sind bestenfalls seelenvolle Kulissen geworden,
vielfach seelenlose. Darum hat der Dichter kaum noch
gewagt, den Menschen durch einen anderen Menschen,
nämlich einen charakteristischeren, in charakteristischerer
Situation, etwa als König zu symbolisieren; als Jm-
pressionist die Augen imnter unmittelbarer am Einzelfall
gab es immer mehr das direkte Erlebnis. Wo gleich-
zeitig in der stimmungsmäßigen Erfassung der Welt
das eigentlich poetische Allgefühl fehlte, das der Dar-
stellung Freiheit und Größe gab, wurde Dichtung mehr
und mehr zur Milieuschilderung. Da dabei die Ge-
bundenheit, die jedes Milieu hat, vielfach in offene
oder versteckte Parallele zu der Gebundenheit tierischen
Lebens gestellt wurde, schuf der Dichter, nachdem er
im Mittelalter die außermenschliche Natur in gewisser
Weise unter den Menschen gestellt hatte, nun gleichsam
eine neue Einheit, indem er den Menschen der übrigen
Natur nachstellte: Die Anschauung war ini Grunde
weiter ethisch, aber nun mit einem negativen Resultat
für das Menschliche; Menschenschicksal symbolisiert jetzt
die Trostlosigkeit des Naturlebens. —

Die außerordentliche Bedeutung des „Kalewala",
des finnischen Nationalepos, das neu herausgegeben
von Martin Buber eben zum zweiten Male in den Er-
lebniskreis des deutschen Volkes tritt*, beruht darauf,
daß es die reinste Form der Dichtung im großartigsten
Umkreis der Handlung darstellt. Hier ist, Musterbeispiel
der Urpoesie, alles Metapher, in solchem Maße, daß
das homerische Epos daneben fast schon wie ein modern-
psychologischer Roman wirkt. Eine Phantasie, der für
ihre Ausdeutung die ganze Welt zur Verfügung steht,
von den kreisenden Gestirnen an bis zum Schmutzrand
eines Fingers, vergleichbar derjenigen, der einst die
Offenbarung St. Johannis geschenkt ward, füllt spielend
ein halbes Tausend Seiten, und doch läuft die Handlung
an grader Schnur bis zum bestimmten Ende, sodaß
kaum Längen da sind. Dabei ist diese Dichtung noch
nicht einmal im strengsten Sinne ein Urepos: Die Form,
in der sie hier übertragen ist, stammt erst aus dem Jahre
1848; damals hat der finnische Magister Loenrott die
Lieder seiner Heimat unter Auswahl auS Tausenden
von Varianten zu einem geschlossenen Gedichtkreis
von fast 23 000 Versen vereinigt. Aber diese Lieder
waren freilich uralt, stammten aus den dunkelsten
Kindheitstagen des finnischen Volkes, und sie waren
dort wieder noch keineswegs abgestorben und als tot
in die Obhut der Gelehrten gewandert, sondern ganz
und gar lebendig. Jn dem dünn bevölkerten Lande,
das sich in seiner Abgeschiedenheit noch auf einer frühen
Stufe geschichtlicher Entwicklung zu halten vermocht
hatte, wurden sie bei jeder größeren geselligen Iu-
sammenkunft von dem Vorsänger gesungen. Die Phan-
tasie, die sie in Anschauung der ewigen Naturereignisse
und der typischen Volkscharaktere in Urtagen geschaffen
hatte, arbeitete noch immer und bildete durch Kreuzung
beständig neue Varianten.

Jn Loenrott wurde die Gesamtheit der Lieder, wie
er sie auf jahrelangen Wanderungen gesammelt hatte,

* München bei Georg Müller.

so lebendig, daß sie durch ihn zur Einheit kommen wollte,
in der künftig auch nichts mehr verloren gehen konnte.
Der Arzt war keine philologische Natur, die die Lieder
in irgendeinen ängstlichen, logisch allzu eng geschlossenen,
vielleicht begründeten Ausammenhang gebracht hätte:
Er war eher Dichter, der letzte jener Laulajat jedenfalls,
die in ununterbrochener Erbfolge die Gesänge bisher
von Geschlecht zu Geschlecht lebensvoll weitergegeben
hatten. Als solcher war er zuerst einmal bemüht, die
finnischen Aauberrunen als den handlungslosen aber
nicht poesieärmeren Teil der finnischen Gesange mit
Kunst in die Handlung der epischen als den anderen
Teil dieser Dichtungen einzufügen. Als solcher wagte
er es innerhalb der Handlung aber auch, wo es nötig
war, Personen, die aus verwandten Vorstellungen ent-
standen waren, in eine zusammenzuziehen, um so zu
einem widerspruchslosen Handlungsganzen zu kommen.
Und so geschah das Einmalige, daß ein europäisches
Volk, an der Grenze der Aeit, die dem übrigen Europa
die realistisch-psychologistische Dichtung gab, zum Aus-
druck seines inneren Wesens in einem großen mythischen
Ur-Epos kam. Alt bis auf wenige Verbindungsverse,
wenn auch nicht in jedem einzelnen Wort, steht es nun
gleichberechtigt neben den übrigen großen Volksepen,
anonym gleich ihnen, weil in Jahrhunderten ein ganzes
Volk daran gearbeitet hat.

Die inhaltliche Grundlage des neu-alten Epos ist
ungefähr dieselbe, wie bei den anderen uns bekannten
Volksepen, den Nibelungen besonders, aber auch der
Odyssee und der Jiias: Sagen von Stammeskämpfen
haben sich um besonders bedeutsame Heldengestalten des
Volkes gewoben; Sagen, die, noch weiter zurückgehend,
gewisse Ereignisse aus dem Lebensablauf der Natur
in mythischen Bildern widerspiegeln, verknüpfen sich
damit, indem sie zum Teil die übrige Darstellung nur
noch gleichsam durchfärben, zum Teil als gesonderte
Erzählungsperioden auftreten. Dabei spaltet sich der
Gesamtcharakter des finnischen Volkes im Kalewala in
drei Haupthelden: den Ursanger Wäinämöinen, in
dessen Wesen gewisse Aüge eines alten Wassergottes
spürbar bleiben, den Schmied Jlmarinen, der deutlicher
noch für die ganze Handlung etwas von einem Feuergott
behält, schließlich den Abenteurer Lemminkäinen, der,
leichtsinniger, wenn man ihn zu den anderen in Parallele
bringen wollte, nur die Verkörperung eines leichteren
und flüchtigeren Elementes sein könnte. An Wäinämöinen,
den Sohn der „Lüftetochter", als an den Haupthelden
knüpft sich die Darstellung von der Erschaffung der Welt,
mit der das Epos großartig einsetzt. Durch Urbar-
machung des Bodens wird Wäinämöinen gleich darauf
zum eigentlichen Vater Kalewala-Finnlands.

Das Land, dem das Kalewala dann so etwa gegen-
übersteht, wie das Reich des Menelaos Jlion, ist „das
Nordland", Lappland, dem Kalewala gegenüber benach-
teiligt, indem es minder fruchtbar und lebensreich ist.
Der bildhafte Geist des Epos setzt solchen Vorzug in drei
Symbole um, eine Frau, den Sampo, eine Art Aauber-
mühle, die Reichtum und Fruchtbarkeit garantiert, endlich
das Licht von Sonne und Mond. Es erklärt die Bevor-
zugung Kalewalas, indem es die drei Helden im Streit
um die drei Güter Sieger über das Nordland werden
 
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