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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 5
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Hesse, Hermann: Alte Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0190

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Mte Musik.

gegen. Kleine Ampeln senden zaghafte Lichtstrahlen an
den Säulen und Pfeilerbündeln empor, Strahlen, die
sich im grauen Gestein verlieren und hoch oben warm
und zart in den Wölbungen versickern. Ein paar Bänke
sind dicht besetzt, weiterhin steht Schiff und Chor fast
leer. Jch schleiche auf Aehen — auch so noch hallt mein
Schritt mir leisdröhnend nach — durch den großen
feierlichen Raum, im dunklen Chor stehen alte, schwere
Holzbänke mit geschnitzten Lehnen wartend, ich schlage
einen Sitz herunter, der hölzerne Klang tönt dumpf in
der steinernen Höhe wider.

Zufrieden niste ich mich in dem weiten, tiefen Sessel
ein, ich ziehe ein Programm hervor, es ist aber zu dunkel
zum Lesen. Jch besinne mich, kann mich aber nimmer
genau erinnern: es war ein Orgelstück eines verstor-
benen französischen Meisters angekündigt, und eine alte
italienische Geigensonate, wer weiß von wem, vielle'cht
von Veracini oder Nardini oder Tartini, und dann ein
Vorspiel und eine Fuge von Bach.

Zwei, drei schwarze Gestalten kommen noch in den
Chor geschlichen, setzen sich, jeder weit vom andern,
graben sich tief in den alten Sitzen ein. Jemand läßt
ein Buch fallen, hinter mir höre ich zwei Mädchen-
stimmen flüstern. Nun Ruhe, Ruhe. Fern auf dem
beleuchteten Lettner, zwischen den beiden runden Lam-
pen und vor den kühl glänzenden hohen Orgelpfeifen
steht ein Mann, er winkt, er setzt sich, ein erwartungs-
voller Atemzug geht durch die kleine Gemeinde. Jch
mag nicht hinsehen, ich schaue zurückgelehnt hoch in die
Wölbungen hinauf und atme die verschwiegene Kirchen-
luft. Jch denke: Wie mag man nun Sonntag für Sonn-
tag im hellen Tageslicht sich in diese heiligen Räume
setzen, nah und eng aufeinander, und der Predigt zu-
hören, die, sie sei noch so schön und so gescheit, in diesem
hohen Tempel nur nüchtern klingen und enttäuschen kann.

Da, ein hoher starker Orgelton. Er füllt, anwachsend,
den ungeheuren Raum, er wird selber zum Raume,
umhüllt uns ganz. Er wächst und ruht aus, und andere
Töne begleiten ihn, und plötzlich stürzen sie alle in
einem hastigen Davonfliehen in die Tiefe, beugen sich,
beten an, trotzen auch und verharren gebändigt im har-
monischen Baß. Und nun schweigen sie, eine Pause
weht wie der Hauch vor einem Gewitter durch die
Hallen. Und jetzt wieder: mächtige Töne erheben sich
in tiefer, herrlicher Leidenschaft, schwellen stürmend
hinan, schreien hoch und hingegeben ihre Klage an Gott,
schreien nochmals und dringender, lauter, und ver-
stummen. Und wieder heben sie an, wieder hebt dieser
kühne und versunkene Meister seine mächtige Stimme
zu Gott, klagt und ruft an, weint sein Leid in stürmenden
Tonreihen gewaltig aus, und ruht und spinnt sich ein
und preist Gott in einem Choral der Ehrfurcht und
Würde, spannt goldene Bögen durch die hohe Däm-
merung, läßt Säulen und tönende Säulenbündel hinan-
steigen und baut den Dom seiner Anbetung empor, bis er
steht und in sich ruht, und er steht noch und ruht und
umschließt uns alle, als schon die Töne verklungen sind.

Jch muß denken: Wie miserabel kleinlich und schlecht
führen wir doch unser Leben! Wer von uns dürfte
denn so vor Gott und vor das Schicksal treten wie dieser
Meister, mit solchen Rufen der Anklage und des Dankes,
mit so emporgebäumter Größe eines tiefgesinnten

Wesens? Ach, man sollte anders leben, anders sein,
mehr unterm Himmel und unter den Bäumen, mehr
für sich allein und näher bei den Geheimnissen^der
Schönheit und Größe.

Die Orgel hebt wieder an, tief und leise, ein langer,
stiller Akkord; und über ihn hinweg steigt eine Geigen-
melodie in die Höhe, in wundervoll geordneten Stufen,
wenig klagend, wenig fragend, aber aus geheimer Selig-
keit und Geheimnisfülle singend und schwebend, schön
und leicht wie der Schritt eines jungen hübschen Mäd-
chens. Die Melodie wiederholt sich, ändert sich, verbiegt
sich, sucht verwandte Figuren und hundert feine, spie-
lende Arabesken auf, windet sich flüssig auf engsten
Pfaden und geht frei und gereinigt wieder hervor als
ein stillgewordenes, geklärtes Gefühl. Hier ist keine Größe,
hier ist kein Schrei und keine Tiefe des Leidens, noch auch
hohe Ehrfurcht, hier ist nichts als die Schönheit einer
begnügten, frohen Seele. Sie hat uns nichts anderes
zu sagen, als daß die Welt schön und voll von göttlicher
Ordnung und Harmonie ist, ach, und welche Botschast
hören wir seltener und haben wir nötiger als diese frohe!

Man fühlt es, ohne es zu sehen, in der ganzen großen
Kirche wird jetzt von vielen Gesichtern gelächelt, froh
und rein gelächelt, und mancher findet diese alte schlichte
Musik ein wenig naiv und veraltet, und lächelt doch
auch und schwimmt mit in dem einfachen klaren Strom,
dem zu folgen eine Wonne ist.

Man spürt es noch in der Pause, die kleinen Ge-
räusche, Geflüster und Zurechtrücken in den Bänken
tönen froh und munter, man freut sich und geht befreit
einer neuen Pracht entgegen. Und sie kommt! Mit
großer, freier Gebärde tritt der selige Meister Bach in
seinen Tempel, grüßt Gott mit Dankbarkeit, erhebt sich
von der Anbetung und schickt sich an, nach dem Tert
eines Kirchenliedes seiner Andacht und Sonntags-
stimmung froh zu werden. Aber kaum hat er begonnen
und ein wenig Raum gefunden, so treibt er seine Har-
monien tiefer, holt den letzten breiten Baß herbei, baut
Melodien ineinander und Harmonien ineinander in
bewegter Vielstimmigkeit, und stützt und hebt und rundet
seinen Tönebau weit über die Kirche hinaus zu einem
Sternenraum voll edler, vollkommener Systeme, als
sei Gott schlasen gegangen und habe ihm seinen Stab
und Mantel übergeben. Er wettert in zusammengeballten
Wolken und öffnet wieder freie, heitere Lichträume, er
führt Planeten und Sonnen triumphierend herauf, er
ruht lässig im hohen Mittag und lockt zur rechten Aeit die
Schauer des kühlen Abends hervor. Und er endet präch-
tig und gewaltig wie die untergehende Sonne und hinter-
läßt im Verstummen die Welt voll Glanz und Seele.

Still gehe ich durch den hohen Raum und über den
kleinen verschlafenen Platz, still über die hohe Fluß-
brücke und durch die Laternenreihen zur Stadt hinaus.
Der Regen hat aufgehört, hinter einer ungeheuren
Wolke, die das ganze Land bedeckt, ahnt man in wenigen
Ritzen Mondlicht und schöne Nachthelle. Die Stadt
verschwindet, und die Eichen an meinem Feldweg
rauschen in einem sanften frischen Winde. Und ich steige
sacht die letzte Höhe hinan und betrete mein schlafendes
Haus, zu den Fenstern spricht die Ulme herein. Nun
mag ich gern zur Ruhe gehen und wieder eine Weile
das Leben erproben und sein Spielball sein.

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