Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

DOI Heft:
Heft 10
DOI Artikel:
Lissauer, Ernst: Über Goethe: Betrachtungen beim Lesen Goethischer Urkunden und Werke
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0365

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Über Goethe.

Dieses Fortdichten in übernommenen Formen wirkt
anders wie bei Bach: weil ein Widerspruch gefühlt wird
etwa zwischen dem deutsch-ländlichen Stoffe von Her-
mann und Dorothea und den Herametern, und weil die
Achilleis nicht in dem Maße über Homer hinausgeht wie
Bach über den Stil seiner Aeit. Homer schloß ver-
mutlich selbst eine Epoche ab; Bach faßte die Elemente
seiner Vorganger zusammen. Goethe leistet in manchen
Teilen seiner Dichtung dies in eigentlichem Sinne Kol-
lektive nicht, sondern schafft nach einer bereits erzielten
Höhe; wenn sie auch um Jahrhunderte oder Jahr-
tausende zurückliegt.

-i-

Die „Antizipation der Welt" durch den Dichter zu-
gegeben: so bedarf er doch einer unendlichen Fülle von
Einzelheiten, die ihm erst zugetragen werden muß.
Goethe selbst spricht von „einiger Beobachtung der Natur",
die zu gewissen dichterischen Bildungen notwendig war.
Und die vielfältige Arbeit im Staatsdienst machte, daß
tausendfach Wirklichkeit samenhaft in ihn einflog und
zeugend wurde. Denn das Grundwesen des Dichters ist
Ausgabe und Aufnahme zugleich, nur daß die dichte-
rische Aufnahme sich oft im „Augenblick" in Ausgabe
verwandeln kann. Die dichterische Seele muß möglichst
viel ausgesetzt werden den Eindrücken, reich muß sie be-
lichtet werden von Welt; „möglichst": soweit, daß kein
Mißverhältnis entstehe zwischen Aufnahme und Aus-
gabe. Überladung und Verarmung ist möglich. Die
Mißstimmung des gealterten Keller fand ich einmal in
dem Sinne gedeutet, daß er nach der großen Veraus-
gabung im „Grünen Heinrich" nicht mehr genügend
eingenommen habe. GoetheS praktische Tätigkeit war
eine unendliche Belichtung, die ihm eine Fülle von
Tatsachen zutrug, an die er sonst nicht gelangt wäre;
seine Mißgefühle in den Weimarer „zehn Jahren" stam-
men aus der immer anwachsenden Uberladung nicht
nur mit innerem Erlebnis, auch mit sachlichem Ein-
druck. Natürlich hatte er auch ohne diesen Dienst ge-
dichtet, wie er auch vorher gedichtet hatte; aber die
Trächtigkeit mit Jrdischem, die das Wesen der Goethe-
schen Sprache, der Verse wie der Prosa, ausmacht, wäre
ohne das ihm nicht so reich gediehen. Dies wäre eine
schöne Abhandlung: „Goethe der Praktiker in den
Goetheschen Dichtungen", auf Stoffe bezogen, mehr noch
auf den Stil.

H r;-

Wie es ein mystisches Erlebnis gibt: die unmittelbare
Vermählung des Jch mit dem Uncndlichen, so gibt es
auch das Goethesche Erlebnis: die mittelbareVermählung
mit dem Unendlichen, der die Vermählung mit dem
Endlichen voraufgeht und Mittel ist. Goethes Leben ist:
eine immer wachsende, immer innigere Vereinigung
mit der ganzen Endlichkeit, Befahrung alles Endlichen;
ihre Er-fahrung. Hermann Grimm hebt ein gewisses
demokratisches Element in ihm hervor: er verachtet
nichts. Goethe erblickt — selbstverstandlich — eine
Hierarchie der Dinge; aber kein Ding fällt aus dem
Umkreis seines Gesichtes überhaupt heraus.

Er ist „voller Figur" und speist diesen Vorrat be-
ständig; ohne ihn speisen zu wollen. Denn er will das
Endliche um seiner selbst willen erwerben, nicht zu künst-
lerischem Aweck; aber was er gewinnt, nährt zugleich und
vor allem seine dichterische Kraft.

ri-

Goethe nennt Napoleon: „dies Kompendium der
Welt"; das Wort paßt besser auf ihn. Vielleicht empfand
er, als er dies aussprach, daß auch er ein Kompendium
der Welt sei; und vielleicht dachte er auch in diesem Sinne
an ihre Ausammengehörigkeit. Denn es ist offenbar,
daß er in Napoleon den einzigen Menschen sah, der mit
ihm in die Jahrtausende gehen würde.

-i-

Wie das Anschwellen eines Stromes sind diese letz-
ten Jahre Goethes: ein uferloses Breitwerden vor der
Mündung. Ein Umfassen des ganzen irdischen Schrift-
tums, der Weltgeistigkeit: „Schottland und Frankreich
ergießen sich tagtäglich." Er umspannt nun geistig die
Erde und drei Jahrtausende Erdgeschichte.

Die abschließenden Marktatsachen folgen einander:
Der Briefwechsel mit Schiller erscheint; der Faust wird
beendet; der Briefwechsel mit Aelter wird zur Ver-
öffentlichung vorbereitet; die Gesamtausgabe wird aus-
gedruckt. 2lllenthalben wird Summe gezogen; Wege
voller Folge ziehen zum Iiel; man hört die Hämmer,
welche die Schlußsteine hauen. Hall nach Hall: ein
ungeheures, siegreiches Enden.

-!- -p

-i-

Goethes Verhältnis zu Beethoven ist symbolisch.
Ein Mangel der Goetheschen Eristenz ist der ungeheure
Verlust an brausenden Kräften, weit hinaus über das
Maß, das durch die Alterung natürlich bewirkt wurde.

Das Dumpfe, Brausende war in ihm unendlich
mächtig, so ungeheuer, daß es überhaupt nicht gänzlich
unterjocht werden, nicht gänzlich verfliegen konnte.
Jm Jahre 1813, in Kiesers Schilderung, erscheint er,
von Plänen aufgewühlt, bebend von dem Gefühl der
eigenen Kraft; zur Aeit Ulrikens spüren wir ihn voll
unterirdischer Erschütterung; selbst noch in einer ganz
späten Schilderung des Kanzlers von Müller — zu
Dornburg unter den jungen Menschen — schallt in die
hohe Klarheit der Goetheschen Weisheit erdhaft-unter-
erdhaft Aufklang geheimer Dumpfheit, wenn er sich den
alten Merlin benennt und sich wieder mit den Urelemen-
ten befreunden will. Aber die imposante Macht, mit der
Goethe dieses Dumpfe bezwingt, ist durchsetzt auch von
kleineren Aügen. Es gibt Sekunden, in denen man
zu spüren glaubt, daß Goethe sich selbst nicht völlig
gewachsen ist.

Mendelssohn spielt ihm den ersten Satz von Beet-
hovens Symphonie in C-Moll. Goethes erstes Wort ist:
„Das bewegt aber gar nichts." Hierauf die Rufe:
„Das ist grandios, das ist ganz groß, ganz toll." Men-
delssohn berichtet es; diese Folge wird, wenn nicht
den Worten, so den Akzenten nach richtig aufgefangen
 
Annotationen