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Schroeder, Leopold von
Indiens Literatur und Cultur in historischer Entwicklung: ein Cyklus von 50 Vorlesungen, zugl. als Handbuch der indischen Literaturgeschichte, nebst zahlr., in dt. Übers. mitgeteilten Proben aus indischen Schriftwerken — Leipzig, 1887

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https://doi.org/10.11588/diglit.16152#0012

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_ 4 —

verlässigen historischen Werke entgegen. Eine Geschichts-
wissenschaft existirt überhaupt nicht, — nicht einmal eine zu-
verlässige Chronologie. Wenn uns Könige angegeben werden,
deren Regierungszeit sich über mehrere hundert Jahre erstrecken
soll, so wissen wir schon, mit welcher Art von Geschichts-
schreibern wir es da zu thun haben. Um die Unsicherheit
dieser Chronologie zu charakterisiren, genügt es wohl anzuführen,
dass man über das Zeitalter eines so wichtigen und keineswegs
in grauer Vorzeit lebenden Mannes wie Kälidäsa so ungewiss
war, dass man ernstlich darüber discutirte, ob er im 1. Jahr-
hundert vor Chr. oder vielleicht gar im 11. Jahrhundert nach
Chr. golebt habe!1

Wunder, Märchen und mythische Erzählungen von den
Göttern durchziehen a e sogenannte Geschichte. Es ist, als ob
der religiöse, philosophische und poetische Trieb bei den Indern
allen historischen Sinn überwuchert habe, so dass er zu völliger
Unbedeutendheit verkümmert ist, — eine völkerpsychologisch
höchst merkwürdige und ganz vereinzelt dastehende Thatsache;
es ist dies ein Mangel, der sich uns im Verlaufe der Betrach-
tung leider noch oft genug fühlbar machen wird.

Aber von diesem einen Mangel abgesehen muss die indische
Literatur als eine grossartige und weitumfassende bezeichnet
werden. Wie umfangreich dieselbe ist, können Sie schon da-
raus entnehmen, dass die Zahl der noch in Handschriften vor-
handenen Einzelwerke in sanskritischer Sprache nach einer
Angabe Max Müller's gegenwärtig auf nicht weniger als
10,000 geschätzt wird.2

Der gewaltige Bau dieser Literatur ist mehrere Jahr-
tausende hindurch gewachsen und hat sich immer vollkommener
und schöner ausgestaltet, ohne dass das Abendland, ohne dass
die stammverwandten indogermanischen Völker eine irgend
nennenswerthe Kenntniss davon erlangt hätten.

Wohl haben Reisende schon Jahrhunderte vor Christi
Geburt Merkwürdiges und Wunderbares über Indien und

1 Vergl. Weber's Ind. Literaturgeschichte, II. Aufl. p. 218 flg. Mit
Genugthuung füge ich übrigens hier die Bemerkung hinzu, dass dieser
Streitpunkt gegenwärtig als definitiv erledigt angesehen werden darf.
Vergl. weiter unten.

a S. Max Müller, Vorlesungen über den Ursprung und die Ent-
wickelung der Religion. Strassburg 1880. p. 153. — Desgl. M. Müller,
Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung. Leipzig 1884, p. 67.
68. „Ich glaube, dies ist mehr als die ganze klassische Literatur von
Griechenland und Italien zusammengenommen-', (ebdas. p. 68.)
 
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