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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 10.1918

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Heft 15/16
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Lüthgen, Eugen: Die Sammlung Leo Kirch in Cöln, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.24428#0249

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DIE SAMMLUNG LEO KIRCH IN CÖLN

hat in einer breiten und felbftficheren For-
menfprache, wie fie dem werdenden Renaif-
fancegefühl entfpricht, die Chorftuhlbüften
der Klofterkirche inBlaubeuren im Jahre 1493
vollendet. Endlich feien noch die Arbeiten
des Erasmus Graffer am Chorgeftühl der
Frauenkirche in München erwähnt, die die
gleichen Formgedanken, wie [ie der ältere
Syrlin verwertete, in bayrifcher Auffaffung
verarbeiten.

Mit diefen Werken oder verwandten
Schöpfungen der Zeit hat diefe Halbfigur
des Petrus in der Sammlung Kirch nichts
gemein. Sie wirkt, und das ift das Selt-
fame, gleichzeitig fortfchrittlicher, größer,
reifer, gleichzeitig aber auch hinfichtlich der
charakteriftifchen Ausdruckswerte des Zeit-
ftiles des 15. Jahrhunderts älter. Ja, man
darf noch weiter gehen und behaupten, fie
wirke infolge der reifen und abgeklärten
Schönheit der kompoptorifchen Auffaffung
wie der plaftifchen Darftellungswerte fo
felbftficher in fich ruhend, daß hier trop
der gotifchen Formenfprache der volle Ge-
fühlsgehalt der Renaiffance zum Durch-
bruch gekommen fei.

Diefe feltfame Gegenfäplichkeit der Reife
der Form und der eigentlichen ftilgefchicht-
lichen Stellung ift bezeichnend. Sie tritt
in der füddeutfchen Plaftik nur einmal, und
wir dürfen fagen bei einem der größten
Meifter der Plaftik, auf, nämlich in dem
Werke des aus den Niederlanden nach Abb. 15. Petrus von Nikolaus Gerhaerd von Leiden.
Straßburg eingewanderten Niklaus Gerhaerd

von Leiden. Darin pndet das Zwiefpältige diefer Erfcheinung in der Entwicklungs-
gefdiichte der deutfehen Plaftik feine Erklärung. Denn das Reife und Abgeklärte, das
dem Renaiffance-Emppnden entfpricht, ift nichts anderes als ein Ausfluß der finnlichen
Emppndfamkeit des Auges für Jede anmutige Schönheit der Form, wie fie die romanifche
Raffe im allgemeinen befipt. Die wundervolle Größe der künftlerifchen Anfchauung,
der alle plaftifchen Darftellungsmittel bis zum Lepten vertraut find, kann gedeutet
werden als eine höchfte Auswirkung der künftlerifchen Geftaltungskraft, die im Be-
ginne des 15. Jahrhunderts auf burgundifchem Boden die genialen Schöpfungen eines
Claus Sluter heranreifen ließ.

Niklaus Gerhaerd von Leiden hat in feinem erften Straßburger Aufenthalt Büften ge-
fdiaffen, die zu den fchönften und reifften gehören deffen, was im fedhften Jahrzehnt des
15. Jahrhunderts in Deutfchland gefchaffen wurde. Und wenn es eine Tatfache ift, daß
in füddeutfchen Kirchen von den fechziger Jahren das Motiv der Halbpgur in fo reicher

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