KARL SCHMIDT-ROTTLUFF
Mit fünf Abbildungen
Oeit geraumer Zeit ift die Kunft-
wiffenfchaft an der Arbeit, eine
klare Formulierung deffen zu ge-
winnen, was man gemeinhin als
„Exprefponismus“ bezeichnet. Die
Antworten auf die Frage nach dem
Wefen diefer neuen Kunft pnd
ebenfo vielfältig, wie die Ant-
worten auf die Frage nach ihrem
Dafeinsrecht. Bald ftellt man die
reine Geiftigkeit, das Lyrifche des
Künftlerifdien, bald die anfchau-
liche Linienführung und die ver-
änderte Farbigkeit als dasWefent-
liche der vermeinten oder ge-
wünfchten „Revolution“ dar. Diefe
Unklarheit der Formulierungsver-
fuche deutet auf die Unklarheit hin,
die dem Problem an fich immanent
ift. Denn in der Tat ift die Frage
nach dem Sinne des Expreffionis-
mus ebenfo pnnvoll, wie etwa die
Frage nach dem Sinne desWeinens;
man kann aus fehr mannigfaltigen
Gründen Tränen vergießen und die
Meinung: man weine weil man
Schmerzen habe, weift nur auf eine
von vielen Urfachen hin, freilich
auf die meift wirkfame. Vielleicht
hat man bei den Analyfierungsverfuchen fich zu fehr mit den komplizierten Pein-
lichkeiten, wie Nolde und Kirchner, befdhäftigt; vielleicht hätte man das Fechnerfche
Prinzip, eine Afthetik von unten nach oben zu führen, beffer beachten und zuerft die
einfachen Typen und dann erft die vielfältig beftimmten Peinlichkeiten umfchreiben
follen. Der ideale Typus, den man folcher Analyfe zu Grunde legen müßte, würde den
Charakter einer allmählichen Befreiung des neuen Lebensgefühles und feiner kunft-
haften Form aus den Dingen der überkommenen Schulung zeigen, fo daß eine immer
reinere Geftaltung des Neuen fichtbar würde.
Ein folcher Ideal-Fall wird der Sehnfucht nach denkerifcher Erkennung des Exprefpo-
nismus im malerifchen und graphifchen Werke Schmidt-Rottluffs1 vorgelegt. Denn
diefem Künftler ward nicht mühelofes Erfaffen neuerer Kunftmittel zuteil als eine im
Wefentlichen technifche Darftellungsmöglichkeit, die immer reiner und bewußter ge-
handhabt oder die von Anfang an mit überlegter Meifterfchaft genujjt wird, wie bei
1 Einige biographifdie Notizen verdanke ich den Mitteilungen des Künftlers, fowie der Redaktion
des Thiemefdien „Künftlerlexikons“. Auch die von Kirchner verfaßte „Gefchichte der .Brücke1“ ent-
hält manchen Hinweis. — Die Äbb. nach Photographien von E. Frifch-Friedenau.
Von ECK. VON SYDOW
Abb. 1. Schmidt-Rottluff: „Gelbe Öljacke“ (1908).
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Mit fünf Abbildungen
Oeit geraumer Zeit ift die Kunft-
wiffenfchaft an der Arbeit, eine
klare Formulierung deffen zu ge-
winnen, was man gemeinhin als
„Exprefponismus“ bezeichnet. Die
Antworten auf die Frage nach dem
Wefen diefer neuen Kunft pnd
ebenfo vielfältig, wie die Ant-
worten auf die Frage nach ihrem
Dafeinsrecht. Bald ftellt man die
reine Geiftigkeit, das Lyrifche des
Künftlerifdien, bald die anfchau-
liche Linienführung und die ver-
änderte Farbigkeit als dasWefent-
liche der vermeinten oder ge-
wünfchten „Revolution“ dar. Diefe
Unklarheit der Formulierungsver-
fuche deutet auf die Unklarheit hin,
die dem Problem an fich immanent
ift. Denn in der Tat ift die Frage
nach dem Sinne des Expreffionis-
mus ebenfo pnnvoll, wie etwa die
Frage nach dem Sinne desWeinens;
man kann aus fehr mannigfaltigen
Gründen Tränen vergießen und die
Meinung: man weine weil man
Schmerzen habe, weift nur auf eine
von vielen Urfachen hin, freilich
auf die meift wirkfame. Vielleicht
hat man bei den Analyfierungsverfuchen fich zu fehr mit den komplizierten Pein-
lichkeiten, wie Nolde und Kirchner, befdhäftigt; vielleicht hätte man das Fechnerfche
Prinzip, eine Afthetik von unten nach oben zu führen, beffer beachten und zuerft die
einfachen Typen und dann erft die vielfältig beftimmten Peinlichkeiten umfchreiben
follen. Der ideale Typus, den man folcher Analyfe zu Grunde legen müßte, würde den
Charakter einer allmählichen Befreiung des neuen Lebensgefühles und feiner kunft-
haften Form aus den Dingen der überkommenen Schulung zeigen, fo daß eine immer
reinere Geftaltung des Neuen fichtbar würde.
Ein folcher Ideal-Fall wird der Sehnfucht nach denkerifcher Erkennung des Exprefpo-
nismus im malerifchen und graphifchen Werke Schmidt-Rottluffs1 vorgelegt. Denn
diefem Künftler ward nicht mühelofes Erfaffen neuerer Kunftmittel zuteil als eine im
Wefentlichen technifche Darftellungsmöglichkeit, die immer reiner und bewußter ge-
handhabt oder die von Anfang an mit überlegter Meifterfchaft genujjt wird, wie bei
1 Einige biographifdie Notizen verdanke ich den Mitteilungen des Künftlers, fowie der Redaktion
des Thiemefdien „Künftlerlexikons“. Auch die von Kirchner verfaßte „Gefchichte der .Brücke1“ ent-
hält manchen Hinweis. — Die Äbb. nach Photographien von E. Frifch-Friedenau.
Von ECK. VON SYDOW
Abb. 1. Schmidt-Rottluff: „Gelbe Öljacke“ (1908).
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