DÄS POSTULÄT DES KUNST
^eitenwende! Über Nacht kam die deutfche Republik, die neue Freiheit. Hart trafen
“ die erften Schläge an das Tor, hinter dem [ich Überliefertes, gefchichtlich Ge-
wordenes barg. Dann [prang es auf. Dunkel gähnte einen Augenblick das Chaos
entgegen; bald kehrte die Disziplin zurück. Die Sehnfucht nach Frieden und geord-
neten Verhältniffen, nach dem Leben in Arbeit und Pflichterfüllung — ohne das der
Deutfche nie [ein Glück finden könnte - fiegte bisher über die Verfuchung, Rußlands
Beifpiel zu folgen.
Noch find die Geburtswehen nicht vorüber. Dunkle Tage werden kommen, [tärkere
Reibungen kaum ausbleiben, und doch muß der Glauben [iegen, daß unfer Volk wert
der Revolution war, daß mit dem Gefühl von Recht auch die Kraft des Geiftes bleibt
und fruchtbar wird, daß die Neuordnung auf allen Gebieten des sozialen Lebens [ich
von innen heraus entwickelt, daß die deutsche Republik ein wirklich geeintes Volk
umfchließt und Neid und Mißgunft, die leider unferer Raffe Erbteil, verebben vor den
großen Aufgaben, die dem Aufbau des sozialen Europas geftellt find.
An eins aber muß gerade in diefer Stunde erinnert werden: Ein Volk, das seiner
kulturellen Pflichten vergäße, wäre nicht wert der Exiftenz unter dem Banner der
Freiheit. Die Sünden des alten Regimes, die heute jedermann klar vor Augen flehen,
die zum gtoßen Teil daran schuld gewefen find, wenn Deutfchlands künftlerifches und
geifliges Können fo flark bei den Völkern in Mißkredit geriet, sie dürfen [ich nicht
wiederholen. Auch die öffentliche Kunflpflege muß ein Teil des neuen fozialen Pro-
gramms fein, und zwar nicht das am wenigflen wichtige. Im Gegenteil: Nach all den
Nöten und Leiden diefer Kriegsjahre braucht die Menfchheit die Gefundung und Auf-
richtung auch im Geiftigen. Eine neue, auf breitefter Grundlage auf gebaute Kunft-
politik muß Sache der Staatsregierung fein. Sie kann auch für die übrigen Provinzen
der Republik vorbildlich werden und nicht zuletjt wirtfchaftlich von ungeheuerem Segen
fein, wenn fie in ihren Grundzügen der Sache des Volkes und aller beteiligten Fak-
toren, dem Künfller, dem Gelehrten, dem Genießenden und nicht zulejjt auch den
übernommenen Einrichtungen und Anftalten dient, die beinahe ausnahmslos der Er-
neuerung im Sinne der Zeit bedürftig find.
Hier harrt ein großes Arbeitspenfum der Bewältigung. Was immer auch die Zu-
kunft fonft bringen mag, diefe Aufgaben dürfen nicht dem Gefichtskreis entfchwinden.
Gewiffe allgemeine Richtlinien laffen [ich jedenfalls programmatifch heute fchon feft-
legen. Grundfätjlich muß dabei folgendes feftgeftellt werden: Die Kunflpflege des
alten Regimes — einerlei ob pe Sache des Reiches, der Bundesflaaten oder der Kom-
munen war — folgte im großen und ganzen, troß gelegentlicher Verfuche, den Kunft-
gedanken auch fozial zu durchdringen, den Bahnen, die aus der Blütezeit des dynafti-
fchen Europas, dem 18. Jahrhundert, in die Neuzeit hinüberleiteten. Sie war ein
Privilegium der oberen Zehntaufend, die auf ererbter Kultur und ererbtem Vermögen
fußten. Erft die Entwicklung von Handel und Induftrie in dem lebten Drittel des
vergangenen und dem erften Jahrzehnt des gegenwärtigen Jahrhunderts glich fie in
etwa dem neuen Bürgertum an. Aber auch da war fie ausfchließlidi Sache der Wohl-
begüterten. Die breiten Maffen des werktätigen Volkes hatten weder Anteil daran
noch Vorteil davon. — Weil man die Kunft als Luxus wertete, war fie Sache der
Privaten, kein fozialer Begriff. Heute aber erkennen wir im Geifte diefer neuen Zeit,
daß fie eine foziale Notwendigkeit ift, daß fie höchfle Anfprüche an das Reich und
alle seine Organe stellen muß, um zu einem wichtigen wirtfchaftlichen und fozialen
Faktor bei der kommenden Neuordnung der Völker zu werden.
Der Cicerone, X. Jahrg., Heft 23/24.
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^eitenwende! Über Nacht kam die deutfche Republik, die neue Freiheit. Hart trafen
“ die erften Schläge an das Tor, hinter dem [ich Überliefertes, gefchichtlich Ge-
wordenes barg. Dann [prang es auf. Dunkel gähnte einen Augenblick das Chaos
entgegen; bald kehrte die Disziplin zurück. Die Sehnfucht nach Frieden und geord-
neten Verhältniffen, nach dem Leben in Arbeit und Pflichterfüllung — ohne das der
Deutfche nie [ein Glück finden könnte - fiegte bisher über die Verfuchung, Rußlands
Beifpiel zu folgen.
Noch find die Geburtswehen nicht vorüber. Dunkle Tage werden kommen, [tärkere
Reibungen kaum ausbleiben, und doch muß der Glauben [iegen, daß unfer Volk wert
der Revolution war, daß mit dem Gefühl von Recht auch die Kraft des Geiftes bleibt
und fruchtbar wird, daß die Neuordnung auf allen Gebieten des sozialen Lebens [ich
von innen heraus entwickelt, daß die deutsche Republik ein wirklich geeintes Volk
umfchließt und Neid und Mißgunft, die leider unferer Raffe Erbteil, verebben vor den
großen Aufgaben, die dem Aufbau des sozialen Europas geftellt find.
An eins aber muß gerade in diefer Stunde erinnert werden: Ein Volk, das seiner
kulturellen Pflichten vergäße, wäre nicht wert der Exiftenz unter dem Banner der
Freiheit. Die Sünden des alten Regimes, die heute jedermann klar vor Augen flehen,
die zum gtoßen Teil daran schuld gewefen find, wenn Deutfchlands künftlerifches und
geifliges Können fo flark bei den Völkern in Mißkredit geriet, sie dürfen [ich nicht
wiederholen. Auch die öffentliche Kunflpflege muß ein Teil des neuen fozialen Pro-
gramms fein, und zwar nicht das am wenigflen wichtige. Im Gegenteil: Nach all den
Nöten und Leiden diefer Kriegsjahre braucht die Menfchheit die Gefundung und Auf-
richtung auch im Geiftigen. Eine neue, auf breitefter Grundlage auf gebaute Kunft-
politik muß Sache der Staatsregierung fein. Sie kann auch für die übrigen Provinzen
der Republik vorbildlich werden und nicht zuletjt wirtfchaftlich von ungeheuerem Segen
fein, wenn fie in ihren Grundzügen der Sache des Volkes und aller beteiligten Fak-
toren, dem Künfller, dem Gelehrten, dem Genießenden und nicht zulejjt auch den
übernommenen Einrichtungen und Anftalten dient, die beinahe ausnahmslos der Er-
neuerung im Sinne der Zeit bedürftig find.
Hier harrt ein großes Arbeitspenfum der Bewältigung. Was immer auch die Zu-
kunft fonft bringen mag, diefe Aufgaben dürfen nicht dem Gefichtskreis entfchwinden.
Gewiffe allgemeine Richtlinien laffen [ich jedenfalls programmatifch heute fchon feft-
legen. Grundfätjlich muß dabei folgendes feftgeftellt werden: Die Kunflpflege des
alten Regimes — einerlei ob pe Sache des Reiches, der Bundesflaaten oder der Kom-
munen war — folgte im großen und ganzen, troß gelegentlicher Verfuche, den Kunft-
gedanken auch fozial zu durchdringen, den Bahnen, die aus der Blütezeit des dynafti-
fchen Europas, dem 18. Jahrhundert, in die Neuzeit hinüberleiteten. Sie war ein
Privilegium der oberen Zehntaufend, die auf ererbter Kultur und ererbtem Vermögen
fußten. Erft die Entwicklung von Handel und Induftrie in dem lebten Drittel des
vergangenen und dem erften Jahrzehnt des gegenwärtigen Jahrhunderts glich fie in
etwa dem neuen Bürgertum an. Aber auch da war fie ausfchließlidi Sache der Wohl-
begüterten. Die breiten Maffen des werktätigen Volkes hatten weder Anteil daran
noch Vorteil davon. — Weil man die Kunft als Luxus wertete, war fie Sache der
Privaten, kein fozialer Begriff. Heute aber erkennen wir im Geifte diefer neuen Zeit,
daß fie eine foziale Notwendigkeit ift, daß fie höchfle Anfprüche an das Reich und
alle seine Organe stellen muß, um zu einem wichtigen wirtfchaftlichen und fozialen
Faktor bei der kommenden Neuordnung der Völker zu werden.
Der Cicerone, X. Jahrg., Heft 23/24.
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