Der dritte Salon der Tuilerien
Von H. MARTINIE
IM Salon der Tuilerien hält auch in diesem Jahr die Neigung zu dem eigent-
lichen Bilde an. Es scheint, als ob die Maler immer stärker das Bedürfnis
fühlten, zu komponieren. Sie verzichten darauf, ihre Gefühle mit höchster
Intensität zu offenbaren; auch hat der Kubismus seine Entwicklung zur an-
gewandten Kunst vollzogen (wie es unser Kollege Adolphe Basler schon
klar vorausgesehen hatte); er hört deshalb auf, eine geistige Bewegung zu sein.
Er hat sich dem Alltag angepaßt: man findet ihn überall: in Zeitungsannoncen,
Anschlagzetteln, Kinos, Schaufensterdekorationen und in den verschiedensten
Schmuckgegenständen. Er ist banal geworden wie alles in dem Kunstgewerbe,
das nur schwer das „Fabrikmäßige“ vermeidet1. Er hat dasselbe Schicksal
wie der „modern-style“, der in Liberty und den Untergrundbahnhöfen ein
trauriges Ende fand. Es wird dies das Schicksal eines jeden Stiles sein, der
sich willkürlich vom wirklichen Leben entfernt. Der Kubismus hat den Nim-
bus einer intellektuellen Kraft verloren, auf dem anfangs seine Stärke beruhte.
In der Theorie und durch dieTat haben die Kubisten bewiesen, daß sie außer-
stande sind, ein wirkliches Kunstwerk zu schaffen. Heute, gestern, überhaupt
immer sind ihre Bilder Partieware. Die kubistischen Arbeiten geben keinerlei
persönliche Eigenschaften wieder, ohne die es überhaupt keine Kunst gibt,
sie scheinen alle von derselben Hand und aus derselben Zeit zu stammen.
Den Beweis liefern ganz mäßige Maler, die mit einigem Fleiß ein gutes kubi-
stisches Bild zustande bringen. So findet sogar Braque, der ungewöhnlichste
und zarteste der Kubisten, der unnachahmlich schien, ziemlich geschickte
Nachahmer. Man erlebt es sogar, daß ein mäßiger Karikaturenmaler jedes
Jahr gute kubistische Bilder malt.
Der Kubismus, der die Maler so stark beeindruckte, hat jeden Einfluß ver-
loren und bewirkte aus natürlicher Reaktion eine heilsame Rückkehr zu Natur
und Ordnung, die in dem diesjährigen Salon ebenso fühlbar ist wie das Be-
dürfnis, die Empfindungen und Eindrücke zu mäßigen, von dem ich oben
sprach. Aber dem langanhaltenden Widerstand gegen „Fauves“ und Im-
pressionisten fehlt es an Kraft und Beredsamkeit.
Es wäre möglich, daß dies allgemeine Maßhalten auf einen Mangel an Tem-
perament zurückzuführen ist. Durch den Neoklassizismus haben die Maler
gelernt, wie man ein Bild malt, doch müßte sich dieser Kenntnis ein wenig
Lyrik und eine persönliche Note zugesellen. Mäßigung darf man nicht mit
Schwäche verwechseln. Nach den stürmischen Ausbrüchen einer leiden-
schaftlichen Jugend ist uns der nackte Naturalismus von Coubine besonders
lieb als Ausdruck einer stetig wachsenden Kraft. Niemand hat die Rückkehr
zum wirklichen Klassizismus glücklicher vollzogen als er. Bei ihm ist die
Ordnung organisch und die Harmonie beruht auf dem Zusammenklang der
verschiedenartigsten Eigenschaften. Jedes Bild lebt in seinem Licht, während
die meisten Maler wahre Beleuchtungskünste anwenden. Besonders be-
merkenswert ist ein ganz in weiches Licht getauchter Rückenakt mit guten
Proportionen. Othon Friesz stellt einen Akt, ein Porträt, eine Komposition,
Blumen, Skizzen aus. Alles ausgezeichnet. Heute malt niemand mit mehr
Autorität, trotz der Freiheit. Besonders gut gibt er die Atmosphäre wieder;
in Les Vendanges verdrängen die Personen die Luft und scheinen beweg-
licher Schatten. Andere Males stehen durch ihre persönliche Note abseits.
1 F. Fels sagt humorvoll: „Aus Kubismus macht man Lehnstühle, Pinassen, Kuchen,
Paläste, Hüte.“
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Von H. MARTINIE
IM Salon der Tuilerien hält auch in diesem Jahr die Neigung zu dem eigent-
lichen Bilde an. Es scheint, als ob die Maler immer stärker das Bedürfnis
fühlten, zu komponieren. Sie verzichten darauf, ihre Gefühle mit höchster
Intensität zu offenbaren; auch hat der Kubismus seine Entwicklung zur an-
gewandten Kunst vollzogen (wie es unser Kollege Adolphe Basler schon
klar vorausgesehen hatte); er hört deshalb auf, eine geistige Bewegung zu sein.
Er hat sich dem Alltag angepaßt: man findet ihn überall: in Zeitungsannoncen,
Anschlagzetteln, Kinos, Schaufensterdekorationen und in den verschiedensten
Schmuckgegenständen. Er ist banal geworden wie alles in dem Kunstgewerbe,
das nur schwer das „Fabrikmäßige“ vermeidet1. Er hat dasselbe Schicksal
wie der „modern-style“, der in Liberty und den Untergrundbahnhöfen ein
trauriges Ende fand. Es wird dies das Schicksal eines jeden Stiles sein, der
sich willkürlich vom wirklichen Leben entfernt. Der Kubismus hat den Nim-
bus einer intellektuellen Kraft verloren, auf dem anfangs seine Stärke beruhte.
In der Theorie und durch dieTat haben die Kubisten bewiesen, daß sie außer-
stande sind, ein wirkliches Kunstwerk zu schaffen. Heute, gestern, überhaupt
immer sind ihre Bilder Partieware. Die kubistischen Arbeiten geben keinerlei
persönliche Eigenschaften wieder, ohne die es überhaupt keine Kunst gibt,
sie scheinen alle von derselben Hand und aus derselben Zeit zu stammen.
Den Beweis liefern ganz mäßige Maler, die mit einigem Fleiß ein gutes kubi-
stisches Bild zustande bringen. So findet sogar Braque, der ungewöhnlichste
und zarteste der Kubisten, der unnachahmlich schien, ziemlich geschickte
Nachahmer. Man erlebt es sogar, daß ein mäßiger Karikaturenmaler jedes
Jahr gute kubistische Bilder malt.
Der Kubismus, der die Maler so stark beeindruckte, hat jeden Einfluß ver-
loren und bewirkte aus natürlicher Reaktion eine heilsame Rückkehr zu Natur
und Ordnung, die in dem diesjährigen Salon ebenso fühlbar ist wie das Be-
dürfnis, die Empfindungen und Eindrücke zu mäßigen, von dem ich oben
sprach. Aber dem langanhaltenden Widerstand gegen „Fauves“ und Im-
pressionisten fehlt es an Kraft und Beredsamkeit.
Es wäre möglich, daß dies allgemeine Maßhalten auf einen Mangel an Tem-
perament zurückzuführen ist. Durch den Neoklassizismus haben die Maler
gelernt, wie man ein Bild malt, doch müßte sich dieser Kenntnis ein wenig
Lyrik und eine persönliche Note zugesellen. Mäßigung darf man nicht mit
Schwäche verwechseln. Nach den stürmischen Ausbrüchen einer leiden-
schaftlichen Jugend ist uns der nackte Naturalismus von Coubine besonders
lieb als Ausdruck einer stetig wachsenden Kraft. Niemand hat die Rückkehr
zum wirklichen Klassizismus glücklicher vollzogen als er. Bei ihm ist die
Ordnung organisch und die Harmonie beruht auf dem Zusammenklang der
verschiedenartigsten Eigenschaften. Jedes Bild lebt in seinem Licht, während
die meisten Maler wahre Beleuchtungskünste anwenden. Besonders be-
merkenswert ist ein ganz in weiches Licht getauchter Rückenakt mit guten
Proportionen. Othon Friesz stellt einen Akt, ein Porträt, eine Komposition,
Blumen, Skizzen aus. Alles ausgezeichnet. Heute malt niemand mit mehr
Autorität, trotz der Freiheit. Besonders gut gibt er die Atmosphäre wieder;
in Les Vendanges verdrängen die Personen die Luft und scheinen beweg-
licher Schatten. Andere Males stehen durch ihre persönliche Note abseits.
1 F. Fels sagt humorvoll: „Aus Kubismus macht man Lehnstühle, Pinassen, Kuchen,
Paläste, Hüte.“
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