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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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Michel, Wilhelm: Münchener neue Secession: Glaspalast 1926
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0021

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Auch wenn sie bestimmt und sinnfällig vor dem
Auge stehen, geht doch ein höheres, erweitertes
Leben wie Wellenschlag mit Leidenschaft durch
sie hin. Lebt im Werke Van Gogh das Element,
das starr macht und verbrennt, so bei Münch
das Element, in dem man versinkt. Dazu stim-
men die vorwiegend kühlen Töne, die Farben
der Tiefe und Ferne (Vorliebe für Grün und
Blau), dazu die Diktion, in der man öfters das
Motiv des schweren Fließens oder des Wellen-
kamms zu bemerken glaubt. Münch prahlt auf
der einen Seite mit geschöpflicher Pracht, auf
der andern zeigt er die Drohung des Verschwim-
mens im Uferlosen. Man ahnt, wie gesagt, eine
Verwandtschaft seiner geistigen Hintergründe zu
den schimmernden Horizonten Hamsuns, doch
sie sind hier wie durch ein schwarzes Glas ge-
sehen. Bei Van Gogh schließt sich das Leben
im Geschöpf ab und droht in ihm zu verdorren;
bei Münch schäumt es über die Grenzen der iso-
lierten Form hinaus und droht zu zerfließen.

Aber in beiden ist die Kraft und der Wille,
die der Gefahr kriegerisch begegnen, sie zur Be-
geisterung wenden und das Werk ermöglichen.

Ein kleineres Kabinett führt einen Ausschnitt
aus Münchs graphischem Werk vor. Man
sieht wieder die seit mehreren Jahrzehnten be-
kannten Blätter, den „Tod im Zimmer", das
„kranke Mädchen", das „Mädchen mit roten
Haaren und grünen Augen". Als wir sie zum
ersten Mal sahen, hingen sie deutlich mit den
Zeitströmungen des Symbolismus, der „Deca-
dence" usw. zusammen; aber sie haben ihre
Jugend wunderbar bewahrt und dauernde Gel-
tung errungen. Vielleicht ist dieser Norweger
der einzige große Graphiker, den das Kunstge-
schehen der letzten Jahrzehnte hervorgebracht
hat. Das Geheimnis, dasewigeLebenundLeiden
gewinnt in diesen Blättern Menschenblick. Man
wird sie immer verstehen, sie werden immer den
Menschen an das Dauernde seiner Situation
erinnern. Sie stellen das Sterben, das Leiden,
das Lieben in immer gültigen Hieroglyphen dar;
sie haben einen stummen Gesang, der gerades-
wegs aus den Tiefen der Welt stammt.

Als eine Art „Ahnenwahl", sagte ich oben,
hat die Neue Secession diese Kollektivausstel-
lungen von Münch und Van Gogh veranstaltet.

XXX. Oktober 1920. J

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