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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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Michel, Wilhelm: Dreissig oder fünfzig Jahre?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0388

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DREISSIG ODER FÜNFZIG JAHRE?

Ein Rundschreiben, unterzeichnet von Georg
Kerschensteiner, Staatsminister Schmidt-
Ott, Reichsgerichtspräsident Simons und Wila-
mowitz-Moellendorff, macht auf Bestrebungen
aufmerksam, die eine Verlängerung der urheber-
rechtlichen Schutzfrist von dreißig auf fünfzig
Jahre bezwecken.

Das Rundschreiben fordert zum Protest gegen
diese Bestrebungen auf, und ich möchte hier
die Auffassung vertreten, daß dieser Protest
begründet und notwendig ist.

Bisher wurden literarische, musikalische und
künstlerische Werke dreißig Jahre nach dem
Tode des Urhebers frei. Sie gingen aus dem
Privatbesitz in den Besitz der Nation über.
Schon das hatte zur Folge, daß Dichtungen,
wissenschaftliche Werke und Kompositionen
— denn die Werke der Kunst spielen in diesem
Zusammenhang eine viel geringere Rolle — erst
sehr spät zum geistigen Gemeinbesitz der
Nation und der Kulturwelt überhaupt wurden.
Denn erst mit dem Freiwerden ergibt sich die
Möglichkeit zu billigen Volksausgaben. Denkt
man daran, wie sehr z. B. alle Schulen auf billige
Ausgaben angewiesen sind, denkt man daran,
wie gerade für breite Massen Gebildeter nur

das wohlfeile Buch zugänglich ist, dann wird
man von der enormen geistigen Bedeutung des
„Freiwerdens" den richtigen Begriff bekommen.
Gewiß kann auf einen Schutz der Erben nicht
ganz verzichtet werden. Aber wer glaubt im
Ernst, daß 30 Jahre dazu nicht völlig genügen?
Nur in verschwindend wenig Fällen werden 30
Jahre nach dem Tod eines geistigen Arbeiters
noch Nachkommen vorhanden sein, die auf die
Einkünfte aus seinen Werken angewiesen sind.
Jedenfalls spielen diese wenigen Ausnahme-
fälle gar keine Rolle gegenüber dem mächtigen
Gesamtinteresse der Nation. Wollte man die
Schutzfrist auf 50 Jahre erhöhen, so würde das
bedeuten, daß das volle Inkrafttreten einer wert-
vollen Hinterlassenschaft um volle 20 Jahre
hinausgeschoben wird. Ein unerträglicher Ge-
danke, wenn man erwägt, wie spät schon bei
der 30 jährigen Schutzfrist Männer wie Adalbert
Stifter, Gottfried Keller, Theodor Storm, Arthur
Schopenhauer zum Gemeinbesitz der Nation
geworden sind.

Mag man an dem Sachverhalt herumdeuteln
wie man wolle: die Tatsache bleibt bestehen,
daß geistige und künstlerische Hochleistung
nicht lediglich nach privatrechtlichen Grund-
 
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