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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 12.1896-1897

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Kaden, Woldemar: Mit fremden Augen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.12050#0058

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Besuch bei Zigeunern, von Anton Aozakiewicz.

Mit fremden Augen.

von woldemar Lade». Nachdruck verböte,,.

I^rofessor Esmarch klagte einmal vor Jahren schon
(seitdem ist es vielleicht noch schlimmer geworden)
über eine, in deutschen Landen überhand genommene, Art
geistiger Kurzsichtigkeit und erläuterte diese moderne
Krankheit dahin, daß nur wenige Studenten imstande
seien, die sinnlichen Eindrücke gut und schnell aufzufassen,
klar zu beurteilen und folgerichtig wiederzugeben; ebenso
beklagte Professor von Brunn, bezüglich des Studiums
der Archäologie, die Unfähigkeit der jungen Herren,
beispielsweise ein Relief, ein Vasenbild zu beschreiben,
d. h. die Gestalten des Bildwerks, die einer vor Augen
hat, aus dem Bild in Worte zu übersetzen. Zu solcher
Arbeit helfen alle aufgehäuften sprachlichen, grammatischen,
historischen und antiquarischen Kenntnisse nichts: es fehlt
die Pflege und die Ausbildung des Auges und des
Anschauungsvermögens, die Anleitung zur Entwicklung
des Formen- (und Farben-)sinns. Unsere Jugend, immer
mit der Nase auf dem Buch, hat das Sehen verlernt
oder nicht gelernt, denn die Alten könnens auch nicht.
Das große Publikum ist nun gar stockblind. Was da
gesehen wird, sei es in Kunstausstellungen, auf Reisen,
wird nach Namen und Nummern erzählt, nie nach Ein-
drücken; wird als Schale vorgelegt, nie als Kern. Aus
der Natur bringen sie „ein weich verschwommenes Bild,
aus grünen, blauen, braungrauen und weißen Farben ge-
mischt, mit nach Hause, und nur wenige sind gewöhnt,
die Linien und Formen eines Landschaftsbildes, das sie
entzückt, aufzufassen, daß in den gestaltgebenden Grund-
zügen das Bild wirklich ihr eigen wird. So ist denn auch
in der Litteratur wie im Leben die Gabe der ruhig klaren,
gegenständlichen Schilderung und Beschreibung, die ge-
eignet ist, im Hörer und Leser deutliche und lebendige
Bilder zu erwecken,, bei uns wenig entwickelt; wenig ent-
wickelt trotz eines Meisters wie Goethe".

Unsre landschaftlichen Schilderungen sind meist arm:
flach, farblos, stumm, fast immer einseitig, weil nur einen
Sinn beschäftigend, wo doch Formen, Farben, Lichter
und Schatten, Klänge, Düfte, Kälte und Wärme gleich-
zeitig und zusammen als ein alle Sinne Jnanspruch-
Nehmendes und Beschäftigendes auftreten.

Wie stumpfsinnig rast und grast die große Menge
über das Terrain ihrer Hochzeits-, Pflicht und Mode-
reisen, z. B. durch Italien, hin, wo das Bekannteste und
Interessanteste noch immer die Orangen sind.

„Gnädige Frau waren dies Jahr auch in Rom?"

„Rom? Lieber Mann, sag doch 'mal, war das nicht
Rom, wo wir die schlechten Handschuhe kauften?"

Und so in Florenz, Neapel, Venedig. Die Augen,
oh die Augen! Man bringe mir schnell meine graue
Bädekerbrille; ich kann die Helle Sonne nicht vertragen.
Und die Dinge führen doch alle noch die alte Nummer?—

Ich habe viel mit meinen eigenen Augen geschaut;
ich habe versucht, gut und liebevoll zu schauen und das
Geschaute treu und „allsinnlich" wiederzugeben; wo ich
einen deutschen Verständnisinnigen fand, war mir's eine
Freude, und jetzt ist es mir Freude, wie die Italiener
uns „nachschauen" und nachahmen an und in den Dingen
in ihrem eigenen Lande.

Sie haben dabei einen gewaltigen Vorteil: in diesem
Lande, zu diesem Licht, unter diesen Farben geboren zu
sein, so daß sie die geheimsten Dinge, die wir mit unfern
Nebelbrillenaugen erst mühsam studieren müssen, im
Hellen Mittagslicht schleierlos sehen und dabei, als von
Jugend daran gewöhnt, nicht sofort in Entzückungskrämpfe
verfallen, sondern lauter Besonnenes, und nichts Er-
sonnenes, in ihr Notizbuch schreiben.

Vor ein Paar Tagen fiel mir ein solches „Notiz-
buch" in die Hand und ich erlebte eine gar große Freude
 
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