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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 12.1914

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Wieland, Christoph Martin: Hann und Gulpenheh oder zu viel gesagt ist nichts gesagt: eine morgenländische Erzählung
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https://doi.org/10.11588/diglit.4753#0224

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Zu zweifeln fällt ihm gar nicht ein;
Sie sagt's ja — also muss es sein!

Seitdem sich beide so verglichen,
War ungefähr ein Jahr verstrichen:
Und eines Abends, wie sie so
Allein bei ihrem Pilau sassen,
Und, auf die Nacht zum voraus froh,
Des Lebens Sorgen ganz vergassen
Geschah's, dass Gulpenheh, die schöne

Schneiderin,
Indem sie in verliebtem Sinn
Mehr nach dem Mann als in die Schüssel

guckte,
Ein kleines Bein hinunter schluckte.

Gross war die Not! — Der arme Hann
Springt ängstlich zu, thut was er kann,
Klopft mit der Faust ihr auf den Rücken,
Versucht's heraus zu ziehn,
Versucht's hinab zu drücken;
Umsonst ist alles sein Bemühn!
Das schöne Weibchen muss ersticken.

Verzweifeln will der arme Mann;
Allein, da ist kein Rat noch Mittel.
Schon liegt sie da im Sterbekittel,
Zwar etwas blau, doch noch so schön;
Er hält's nicht aus, sie anzusehn!

Frau Gulpenheh ruht nun in kühler Erde,

Und Hann mit wütender Geberde
Wälzt sich auf ihrem Grab, und ächzt so

laut und bang,
Dass man auf tausend Schritt' ihn hörte;
Entschlossen festiglich, neun ganzer Tage

lang
(Nach seinem Schwur) auf ihrem Grab zu

weilen.

Und es begab sich, dass Aissa, der

Prophet,
Vorüberging: und wie das laute Heulen
Vom Grabe her ihn störet im Gebet,
Tritt er hinzu, und fragt den Mann, der

auf dem Grabe
Sich wälzt und heult, was Leides ihm ge-
schah?

Der Schneider spricht: Ach Herr! in

diesem Grabe da
Da liegt ein Schatz, den ich verloren

habe?
Das beste Weib! ein Weib, das mich so

sehr geliebt!
Ein Weib — ach! Herr, ein Weib wie's

nun kein andres giebt!
Und heute hab' ich sie begraben!

Spricht der Prophet zu ihm: Nun, weil
so bang dir ist

Nach deinem Weibe, Hann — so habe

Was du zu haben würdig bist!

Und wie er's sprach, schlug er mit seinem

Stabe

Aufs Grab, und siehe da! es öffnet seinen

Schlund,

Und Gulpenheh, frisch und gesund,

Steigt aus dem Grab und wirft sich mit

Entzücken

Dem Männchen an die Brust. Das war ein

Wiedersehn!

Ein Freudenrausch! ein Herzen und ein

Drücken!

Ihr dächtet, hättet ihr's gesehn,

Sie würden beide sich mit Küssen gar er-
sticken.

Und danken will nun auch das liebetrunkne

Paar

Dem Wundermann, durch den ihm solches

Heil geschehen;

Allein, der ward nicht mehr gesehen.
 
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