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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 12.1914

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Heft 11
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Chronik
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CHRONIK

Ein Protest der Franzosen.

Vor einigen Wochen begegneten sich Leon Bonnat
und Edgar Degas. Bonnat schüttete seinem Jugend-
freund das Herz aus:

„In Kopenhagen ist eine grosse, retrospektive Aus-
stellung der französischen Kunst im neunzehnten Jahr-
hundert veranstaltet worden. Weder Raphael Collin,
noch C. Cormon, noch Jean Paul Laurens, noch Leon
Lhermitte, noch Antonie Mercie, noch Rene de Saint
Marceau sind dort vertreten — und ich auch nicht. Es
ist unerhört, dass die Ausstellungskommissionen seit
Jahren die Akademie und die Ecole des beaux-arts im-
mer übergehen. Gehören wir nicht zur französischen
Kunst?"

„Ich verstehe nicht," antwortete Degas, „dass einen
Mann wie dich das beunruhigen kann. Du hast mehr
erreicht als ich. Du bist Mitglied des Instituts, Direktor
der Ecole desBeaux-Arts; du hast den Gross-Cordon der
Ehrenlegion — was willst du noch mehr?" „Im Aus-
land spricht man von dir. Die Akademie und ich wer-
den übergangen," klagte Bonnat heftiger.

Degas schwieg. Bonnat ging und fand in den Kreisen
des Instituts und der staatlichen Kunstschule ein offneres
Ohr. Seine Kollegen verstanden seinen Schmerz, emp-
fanden mit ihm und gewannen die vornehmste Kunst-
zeitschrift Frankreichs für einen Protest. „Larevuede
Part ancien et moderne" ist eine Monatsschrift, die seit
zwanzig Jahren im Kielwasser der Akademie treibt. In
diesem Blatt hat Emile Dacier im Namen der Gekränk-
ten das Wort ergriffen und Klage gegen Karl Madsen,
den tüchtigen Organisator der dänischen Ausstellung
erhoben, dass er Harpignies, Henri Martin, Rene Me-
nard, Roll, Cottet nicht einlud, dafür (ausser der würd-
gen Vertretung der Toten) Asselin, Doucet, Picart le
Doux und Friesz, dessen Franzosentum in Frage gestellt
wird. Besnard ist in Kopenhagen nur mit einem kleinen
Bild, Henri Matisse dagegen mit vier Arbeiten, Simon
mit einem, Marquet mit vier Bildern vertreten. Und
eine solche Ausstellung wird als vollständig und bedeu-
tend gepriesen!

Es ist richtig, Karl Madsens Überblick über die
französische Kunst im neunzehnten Jahrhundert ist nicht
vollständig, kann nicht vollständig sein, wenn die Künst-
ler der Akademie und der Staatsschule fehlen. Auch
das Bild, das sich die Leser dieser Zeitschrift von der
französischen Kunstentwicklung machen, ist nicht voll-
ständig, da sie meistens von Manet, Degas, Monet,
Cezanne hören, Namen, die die alte und vornehme
Pariser Kunstzeitschrift „La revue de Part ancien et
moderne" noch niemals genannt hat und ihren Mit-
arbeitern verboten hat, zu zitieren. Immerhin, diese
alte und vornehme Kunstzeitschrift ist in letzter Zeit
gewahr worden, dass von jenen fragwürdigen Künstlern

doch soviel gesprochen wird, dass es dem Kreise
„wahrer" Künstler, dem „La revue de Part ancien et
moderne" dient, schaden könnte. Da ist Louis de
Fourcand, Dozent an der Ecole des Beaux-Arts und
Kunstkritiker des „Gaulois" auf die vorzügliche Idee
gekommen, unter dem Titel „Salon d'Academie" alle
zwei Jahre eine Ausstellung der französischen staat-
lichen Kunstschulen zu veranstalten, und man hofft, das
Ansehen gewisser Maler wie Renoir, Cezanne, Lautrec
durch diese Ausstellungen solider Kunst endgültig zu
erschüttern.

Was können die Franzosen selbst von diesen Salons
erhoffen, wenn es von den jetzigen Salons in Frankreich
selbst schon heisst: „Je crois donc qu'on peut faire ce
reproche ä la peinture de la Societe nationale qu'elle
n'ajoute rien ä notre fonds d'images," wie Schnerb
kürzlich in der „Gazette des Beaux-Arts" schrieb ?

Ein Bibelwort lautet: „Verheiratet euch nicht in
eurem Trotz."

Die französischen Akademiker spannen seit vierzig
Jahren alle ihre Kräfte zu einem trotzigen Kampf, um
durch „Richtig-Malen im akademischen Sinne" zeitliche
Güter zu erringen. Und wenn sie die Stufenleiter von
Prix de Rome und Hors Concours durchlaufen haben
und am Ende des Lebens Membre PInstitut und Grand
Cordon de la Legion d'Honneur sind, halten sie sich mit
Ingres, auf den sie sich berufen, für gleichberechtigt.
Man staunt über das tiefe geistige Niveau dieser Men-
schen. Man begreift nicht, wie es ihnen gelingt, sich
vom Leben so völlig abzuschliessen, dass sie alle Ent-
wicklungsphänomene der Kunst nicht nur übersehen —
sondern überhaupt nicht sehen. Es ist Thatsache, dass
die Ecole des Beaux-Arts Manet heute noch nicht
anerkennt. Das neue Ethos, das Gustave Moreau der
Jugend seiner Zeit schenkte, indem er seine Schüler
Guerin, Flandrin, Schnerb, Marquet, Desvalliere, Henri
Matisse von neuem auf Poussin lenkte, ist vor den
steinernen Mauern der französischen Kunstschule zu-
rückgeprallt. Und man ahnt nicht im Ausland, wo man
sich mit der lebendigen Kunst Frankreichs beschäftigt,
wie breit die Wirkungsfläche der akamedischen Kunst
in Frankreich ist — vielleicht hundertmal breiter als in
Deutschland. Kaum ohne Übertreibung lässt sich sagen,
dass Privatsammler in der französischen Provinz nie-
mals ein gutes Bild kaufen. Kürzlich wurde die zwei-
undzwanzigste Kunstausstellung in Monaco geschlossen;
es wurden 46 Bilder, 10 Aquarelle und etwa 100 Skulp-
turen und Kleinplastiken für 124763 Franks verkauft
unter denen sich nicht ein Name befindet, der uns teuer
ist, ja von denen kaum ein Drittel in der bescheiden-
sten Provinzausstellung Deutschlands zugelassen würde.
Die Jahresausstellungen in Bordeaux, Lyon, Marseille
und Nancy sind um nichts besser; nur in Le Havre,

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