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J. TINTORETTO, STUDIE ZUR „DARSTELLUNG IM TEM-
PEL" IN VENEDIG. SCHWARZE KREIDE
PHOTOGRAPHIE MANELLI
J. TINTORETTO, STUDIE ZUR „STEINIGUNG DES STEPHANUS"
IN VENEDIG. KOHLE UND WEISSE KREIDE
PHOTOGRAPHIE MANELLI
seiner Kunst, über den menschlichen Körper. Aber
es sind keine Aktstudien im gewöhnlichen Sinne.
Nur wenige unsrer Reihe, vielleicht nur zwei,
lassen den Gedanken an Modellarbeit aufkommen.
Die andren sind Geschöpfe seiner Formvorstellung,
seiner exakten Phantasie, aus dem sogenannten
Nichts geboren, aus dem leeren Hirn. Manche
so, dass man meint, er hätte sie noch zeichnen
können, auch wenn er plötzlich erblindet wäre;
so ferne sind sie aller Einzel-Wahrnehmung, so
unmittelbar entstammen sie der inneren Vision.
Zwar sind sie künstlerisch durchaus lebensfähig.
In dem Hirn des Mannes, der sie machte, ist
eine Summe von Kenntnissen mehrerer Jahrhun-
derte aufgespeichert und dazu die Summe einer
endlosen Reihe persönlicher Erfahrungen, per-
sönlichen Studiums, persönlicher Formerlebnisse.
Als er sie schuf, stand er fest mit beiden Füssen
im Wirklichen. Aber die Werke sind, eben kraft
ihres Phantasie-Entstammens, aller irdischen Materie
entkleidet, sie schweben in einer höheren Luft-
schicht, aus der man die Dinge von oben und
von ferne sieht.
I.
Man weiss, wie Tintoretto zeichnen gelernt
hat. Ridolfi, sein Biograph, hat uns darüber einen
Bericht hinterlassen. Das Arbeiten nach der Natur
genügte ihm nicht, er wollte sich eine tiefere Kennt-
nis des menschlichen Organismus verschaffen und
deshalb unterstützte und korrigierte er die Ergeb-
nisse seiner Naturbeobachtung und seiner ana-
tomischen Studien durch Zeichnen nach der Antike,
nach Abgüssen. Abends, bei Lampenlicht, zeichnete
er sich einen Gips, dann veränderte er den Stand-
ort der Lampe, machte eine zweite Zeichnung, eine
dritte, eine vierte — unermüdlich, bis er wusste,
was es mit der „Form im Licht" auf sich habe.
Im British Museum befindet sich eine Serie von
Studien nach einem Vitelliuskopf, die auf solche
Weise entstanden sind. — Ausser der Antike
glaubte er nur Michelangelo. Vom Giuliano de
Medici (aus der Medizieergruft in Florenz) sind
uns ebenfalls mehrere grosse Skizzen dieser Art er-
halten*, und von den allegorischen Figuren der so-
genannten Tageszeiten an diesen Gräbern, vom
* Eine besonders schöne befindet sich in der Handzeich-
nungssammlung des Christ Church College zu Oxford.
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J. TINTORETTO, STUDIE ZUR „DARSTELLUNG IM TEM-
PEL" IN VENEDIG. SCHWARZE KREIDE
PHOTOGRAPHIE MANELLI
J. TINTORETTO, STUDIE ZUR „STEINIGUNG DES STEPHANUS"
IN VENEDIG. KOHLE UND WEISSE KREIDE
PHOTOGRAPHIE MANELLI
seiner Kunst, über den menschlichen Körper. Aber
es sind keine Aktstudien im gewöhnlichen Sinne.
Nur wenige unsrer Reihe, vielleicht nur zwei,
lassen den Gedanken an Modellarbeit aufkommen.
Die andren sind Geschöpfe seiner Formvorstellung,
seiner exakten Phantasie, aus dem sogenannten
Nichts geboren, aus dem leeren Hirn. Manche
so, dass man meint, er hätte sie noch zeichnen
können, auch wenn er plötzlich erblindet wäre;
so ferne sind sie aller Einzel-Wahrnehmung, so
unmittelbar entstammen sie der inneren Vision.
Zwar sind sie künstlerisch durchaus lebensfähig.
In dem Hirn des Mannes, der sie machte, ist
eine Summe von Kenntnissen mehrerer Jahrhun-
derte aufgespeichert und dazu die Summe einer
endlosen Reihe persönlicher Erfahrungen, per-
sönlichen Studiums, persönlicher Formerlebnisse.
Als er sie schuf, stand er fest mit beiden Füssen
im Wirklichen. Aber die Werke sind, eben kraft
ihres Phantasie-Entstammens, aller irdischen Materie
entkleidet, sie schweben in einer höheren Luft-
schicht, aus der man die Dinge von oben und
von ferne sieht.
I.
Man weiss, wie Tintoretto zeichnen gelernt
hat. Ridolfi, sein Biograph, hat uns darüber einen
Bericht hinterlassen. Das Arbeiten nach der Natur
genügte ihm nicht, er wollte sich eine tiefere Kennt-
nis des menschlichen Organismus verschaffen und
deshalb unterstützte und korrigierte er die Ergeb-
nisse seiner Naturbeobachtung und seiner ana-
tomischen Studien durch Zeichnen nach der Antike,
nach Abgüssen. Abends, bei Lampenlicht, zeichnete
er sich einen Gips, dann veränderte er den Stand-
ort der Lampe, machte eine zweite Zeichnung, eine
dritte, eine vierte — unermüdlich, bis er wusste,
was es mit der „Form im Licht" auf sich habe.
Im British Museum befindet sich eine Serie von
Studien nach einem Vitelliuskopf, die auf solche
Weise entstanden sind. — Ausser der Antike
glaubte er nur Michelangelo. Vom Giuliano de
Medici (aus der Medizieergruft in Florenz) sind
uns ebenfalls mehrere grosse Skizzen dieser Art er-
halten*, und von den allegorischen Figuren der so-
genannten Tageszeiten an diesen Gräbern, vom
* Eine besonders schöne befindet sich in der Handzeich-
nungssammlung des Christ Church College zu Oxford.
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