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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 12.1914

DOI issue:
Heft 11
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Scheffler, Karl: Julius Pascin
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https://doi.org/10.11588/diglit.4753#0649

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JULIUS PASCIN, STUDIE

Sinne etwa der leichten und zierlichen Schilderun-
gen Henri Murgers. Doch tritt bei Pascin an die
Stelle des „kleinen Mädchens" die Vorstadtdirne.
Trotzdem in ihr bei Pascin immer auch etwas halb
Asiatisches, etwas Rumänisches noch ist, trotzdem
ihre groteske Verkrüppeltheit und Gemeinheit oft
schlechthin Abscheu erregt, kann man Pascin doch
einen kleinen nachgeborenen Watteau des Bordells
nennen. Er trägt mit seinen verwegenen Zierlich-
keiten, mit seiner das Hässliche umschreibenden
Grazie in das Milieu sittlicher Verworfenheit eine
gewisse Boccaccio-Anmut. Sein Rokoko ist durch
den Impressionismus gegangen, es hat die Elemente
der neuesten Kunst in sich aufgenommen, und ihm
ist der Kubismus nicht fremd. Der Impressionis-
mus wird darin dekorativ, ornamental und hand-

schriftlich; aber er wird in
keiner Form kunstgewerb-
lich. Es ist schon Beweis
eines nicht gewöhnlichen
Talents, zwei so verschie-
dene Welten, wie die des
Stoffes und der Form bei
Pascin sind, ästhetisch
glaubwürdig zusammenzu-
schweissen. Es riecht das
Leben, das Pascin darstellt,
nach der Pistole, nach Sy-
philis, Irrenhaus und Mor-
gue, und alle Gestalten tra-
gen den Stempel des Tie-
rischen; und dennoch ist
überall in der Darstellung
auch Schönheit und Anmut.
Es ist, als ob ein vollkom-
men amoralischer Mensch,
ein sehr intellektueller, ein-
drucksfähiger, aber ziem-
lich willenloser Mensch,
den sein Talent gewisser-
massen besitzt, instinktiv
die einzige Gelegenheit ge-
sucht und gefunden hätte,
die es dem Maler und
Zeichner in unserer ange-
kleideten Zeit erlaubt, die
Nacktheit in ihrer Natür-
lichkeit zu sehen. Es ist,
als sei Pascin der Natur des
menschlichen Körpers bis
ins Bordell nachgegangen.
Der Natur im Entkleideten, in der hässlichsten
Unnatur. Wie Degas aus der künstlichen Welt
des Varietes oder des Balletts eine neue Wahrheit
hervorgeholt hat, so sieht Pascin — künstlerisch
freilich tiefer stehend als Degas — dasselbe im
Freudenhaus. Er sucht den beziehungsvollen Reiz,
der entsteht, wenn durch das an sich Hässliche
und Gemeine der ewige griechische Rhythmus
hindurchklingt, wenn das Urgesetz der Schön-
heit mit dem sozial Deformierten spielt. Es reden
die Bilder und Zeichnungen Pascins darum, sicher
ohne es zu wollen, von der Allgegenwart der Schön-
heit; sie helfen den Satz erklären, dass es eigentlich
gar nichts Hässliches in der Welt giebt, dass, optisch
betrachtet, alles schön sein kann, und dass diese
Schönheit überall naiv und anmutig bleibt.

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