Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 24.1926
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https://doi.org/10.11588/diglit.7391#0419
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Heft 10
DOI Artikel:Meyer, Peter: Fragmente antiker Architektur und ihre Ergänzung
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Wert dahin. Auch hier wären also Zeichnungen
und Modelle bei weitem vorzuziehen, sie können
viel besser konfrontiert, mit einem Blick umfaßt
und miteinander verglichen werden, sie bringen
alle den Eindruck so stark bestimmenden Sub-
stanzwirkungen des Originals auf einen gemein-
samen Nenner, so daß nur das Interesse an der
Proportion im Ganzen übrig bleibt, worauf es hier
einzig ankommt: auch für die wissenschaftliche
Demonstration ist also die Rekonstruktion in Natur-
größe das ungeeignetste Objekt.
Uns scheint aber, es ist überhaupt nicht Sache
eines Museums, das die Ehre hat, wichtige Ori-
ginalstücke zu besitzen, diese zugleich als Lehr-
mittel zu verwenden, um kunsthistorische Ent-
wicklungsreihen zu konjugieren: das mag man in
Büchern tun, in denen sich auch die erstrebte
Vollständigkeit unschwer erreichen läßt.
Die Antike ist uns lange genug durch gutgemeinte
Klassizismen verwässert, vervollständigt und mund-
gerecht gemacht worden, aus dem Gips der klassizisti-
schen Wohlanständigkeit ist uns aber ein neues, herr-
lich fremdes und dämonisches Gesicht aufgetaucht,
weit jenseits aller glatten „Schönheit". Ein Ge-
sicht, an dem man nicht mit wohlmeinenden, aber
respektlosen Händen Kosmetik treiben soll: man
wird sich dabei die Hände verbrennen. Diese
Dämonie glüht noch in den verlorensten, ge-
schändetsten Fragmenten, so trümmerhaft sie sein
mögen, sie reden ein Griechisch, das auch den
Nicht-Archäologen und Nicht-Philologen ohne
Ergänzung verständlich genug ist. Wo die Archäo-
logen helfen können, diese Schätze zu heben, sind
sie willkommen, aber: „das Wort sie sollen lassen
stan", und was sie allenfalls an Ergänzung und
Mutmaßung dazu zu bemerken haben, möge sich
nicht vorlaut in die Originalbestände einmischen,
es gehört als Marginal-Kommentar bescheiden an
den Rand, wo es der schon finden wird, der es sucht,
und wo es jene nicht belästigt, die es nicht suchen.
EDGAR DEGAS, FRAUENKOPE. BRONZE
AUSGESTELLT IN DER GALERIE A. FLECHTHEIM. BERLIN. MIT ERLAUI'.NIS DER SOCIETE DU DROIT D'AUIEUR AliX ARTISTES
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und Modelle bei weitem vorzuziehen, sie können
viel besser konfrontiert, mit einem Blick umfaßt
und miteinander verglichen werden, sie bringen
alle den Eindruck so stark bestimmenden Sub-
stanzwirkungen des Originals auf einen gemein-
samen Nenner, so daß nur das Interesse an der
Proportion im Ganzen übrig bleibt, worauf es hier
einzig ankommt: auch für die wissenschaftliche
Demonstration ist also die Rekonstruktion in Natur-
größe das ungeeignetste Objekt.
Uns scheint aber, es ist überhaupt nicht Sache
eines Museums, das die Ehre hat, wichtige Ori-
ginalstücke zu besitzen, diese zugleich als Lehr-
mittel zu verwenden, um kunsthistorische Ent-
wicklungsreihen zu konjugieren: das mag man in
Büchern tun, in denen sich auch die erstrebte
Vollständigkeit unschwer erreichen läßt.
Die Antike ist uns lange genug durch gutgemeinte
Klassizismen verwässert, vervollständigt und mund-
gerecht gemacht worden, aus dem Gips der klassizisti-
schen Wohlanständigkeit ist uns aber ein neues, herr-
lich fremdes und dämonisches Gesicht aufgetaucht,
weit jenseits aller glatten „Schönheit". Ein Ge-
sicht, an dem man nicht mit wohlmeinenden, aber
respektlosen Händen Kosmetik treiben soll: man
wird sich dabei die Hände verbrennen. Diese
Dämonie glüht noch in den verlorensten, ge-
schändetsten Fragmenten, so trümmerhaft sie sein
mögen, sie reden ein Griechisch, das auch den
Nicht-Archäologen und Nicht-Philologen ohne
Ergänzung verständlich genug ist. Wo die Archäo-
logen helfen können, diese Schätze zu heben, sind
sie willkommen, aber: „das Wort sie sollen lassen
stan", und was sie allenfalls an Ergänzung und
Mutmaßung dazu zu bemerken haben, möge sich
nicht vorlaut in die Originalbestände einmischen,
es gehört als Marginal-Kommentar bescheiden an
den Rand, wo es der schon finden wird, der es sucht,
und wo es jene nicht belästigt, die es nicht suchen.
EDGAR DEGAS, FRAUENKOPE. BRONZE
AUSGESTELLT IN DER GALERIE A. FLECHTHEIM. BERLIN. MIT ERLAUI'.NIS DER SOCIETE DU DROIT D'AUIEUR AliX ARTISTES
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