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Kunst der Zeit: Zeitschrift der Künstler-Selbsthilfe: Periodica — 1.1929/​1930

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Zierer, Ernst: Kunstbetrachtung, 3
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https://doi.org/10.11588/diglit.55057#0148

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Wir kennen die Taktik der Wie-Verteidiger; sie haben nur ein Lächeln
übrig für die Beschauergruppe, die sich für ein Kunstwerk deshalb begeistert,
weil es beispielsweise eine Landschaft darstelle, der man schon erfahrungs-
mäßig, außerhalb der Kunst, als Kenner und Ästhet ein Wohlwollen entgegen-
bringt; aus demselben Grunde verwerfen sie auch jene Betrachter, die ein
Kunstwerk deshalb ablehnen, weil es dieser Erfahrung nicht entspreche.
Hingegen fühlen sie sich abgerückt vom Was-Standpunkt, wenn man Wert-
urteile durch Begriffe begründet, die den Wortklang von Form, Gestalt,
Komposition, Harmonie, Rhythmus usw. tragen. Die äußere Anregung des
Künstlers, sein „Vorwurf“ interessiert sie nicht, aber die Gestaltung des Vor-
wurfes im Kunstwerke selbst, ist für sie das Um und Auf der Kunst. Sie
sagen: wir halten uns nicht an den Vorwurf, sondern nur an seine bildmäßige
Gestaltung. Wir fragen aber: kann nicht schon der Vorwurf alle jene Er-
scheinungen der späteren bildmäßigen Gestaltung enthalten, die man so gern
als rein „künstlerische“ Angelegenheiten bezeichnen möchte? Ist nicht jeder
Vorwurf, gleichgültig, ob er der lebendigen oder toten Natur oder einer
willkürlichen Zusammenstellung im Atelier entnommen ist, ausnahmslos schon
von jenen Elementen durchsetzt, die die Wie-Kritiker bereits als Eigentümlich-
keiten der Kunst behaupten? Wenn auch die Natur und unsere Umgebung
nicht in jedem Fall treue Vorwürfe unserer Kunstwerke nachweisen können,
so besteht doch immerhin die „Möglichkeit“, daß sich der Künstler selbst
solche Vorwürfe konstruiert haben könnte. Also nicht nur das Thema, sondern
auch der Aufbau desselben bis ins Letzte kann dem Kunstwerk durch den
Vorwurf vorausgenommen sein. Wenn nun aber der Vorwurf kunstsprachlich
das „Was“ bezeichnet, so müssen alle Begriffe der geläufigen Kritik bereits
im Existenzbereiche des Vorwurfs (des Was) liegen, d. h. jede Form, Gestalt,
Harmonie, Disharmonie usw. können auf ihn zurückgehen und dürfen daher
nicht als besondere „künstlerische“ Leistungen oder als spezifische Ergebnisse
der bildmäßigen Gestaltung angesprochen werden.
Wollte man jetzt einwenden, daß man doch wisse, daß der Künstler die
Gestaltung des Kunstwerkes nicht direkt vom Vorwurfe, sondern auf dem
Umweg über seine eigene „Auffassung“ vollziehe, also doch mit seiner Per-
sönlichkeit zwischen Vorwurf und Kunstwerk stehe und daß in dieser per-
sönlichen Auffassung das künstlerische Kriterium stecke, so gibt man sich
durch diese Einwendung eine noch größere Blöße. Ein ernster Kunst-
betrachter wird doch nicht seine Urteile abhängig machen von der Kontrolle,
ob dem Künstler tatsächlich ein Vorwurf gedient habe, der dem Gesicht des
Werkes entspreche; ihm muß vielmehr, wenn diese Frage überhaupt an-
geschnitten wird, die bloße Tatsache der „Möglichkeit“ genügen. Wenn nur
die Möglichkeit vorhanden ist, zu sagen, daß beispielsweise irgendein
kubistisches Werk die treue Wiedergabe eines Vorwurfes sein könnte, so
kann auch nicht mehr bezweifelt werden, daß alle Erklärungen des Begriffes
„Kubismus“ zum Was der Kunst gehören, also auch alles, was in bezug auf
den Aufbau des Werkes festgestellt und beurteilt wird.
Jetzt verstehen wir auch, daß die gut klingenden Redensarten, es komme
nicht auf das Was, sondern auf das Wie in der Kunst an und die übrigen,
ähnlichen Phrasen nur dazu da sind, um über die wahre Situation hinweg-
zutäuschen. Wir haben jedoch erkannt: auch das Wie ist noch ein Was.
Kunstbetrachter, die ein Kunsturteil beispielsweise mit der Unwirklichkeit des
Themas oder umgekehrt mit seiner Treue oder mit seinem Verhältnis zu
den Neigungen oder Abneigungen des Beschauers oder sonstwie „banal“
begründen, stehen auf demselben Niveau des Kunstverständnisses wie die
Schöne-Wortemacher, die sich in „geistreicher“ Weise mit vornehmeren Be-
griffen verteidigen. Nichts unterscheidet sie voneinander, nur die Sprache —
oder (vornehmer ausgedrückt), die einen stellen sich synthetisch, die anderen
analytisch auf das Was der Kunst ein. Solange aber beide der Was-
Anschauung huldigen, braucht sich der Laie nicht vor dem Fachmann zu
schämen — und auch nicht umgekehrt. Denn beide lassen die wesentlichste
Frage offen: was ist Kunst?

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