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Kunst der Zeit: Zeitschrift der Künstler-Selbsthilfe: Periodica — 1.1929/​1930

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Siemsen, Hans: Ein Brief über Kunstschriftstellerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.55057#0226

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Ein Brief über Kunstschriftstellerei
Lieber Peter!
Du hast Bilder von Carl Hofer, Max Beckmann, Klee und Picasso gesehen,
sie haben Dir, wie Du sagst, „zum Teil“ gefallen, und Du fragst mich, was
für Bücher über moderne Kunst Du nun lesen sollst.
Erlaube mir eine Gegenfrage: Weshalb willst Du „Bücher über moderne
Kunst“ lesen? Genügt es Dir nicht, moderne Kunst zu sehen? Genügt es
Dir nicht, die Bilder, von denen Du sprichst, zu sehen und wieder zu sehen?
Hast Du wirklich das Bedürfnis, etwas über sie zu lesen? Weshalb? Was soll
der arme Kunstschriftsteller Dir über diese Bilder sagen? Soll er sie Dir
„erklären“? Da ist nichts zu erklären.
Hattest Du, als Du zum erstenmal die Alpen sahst, den Wunsch, daß man
sie Dir erkläre? Hattest Du den Wunsch, etwas über sie zu lesen? Vielleicht
ein geologisches Werk, das Dir etwas sagt über Entstehung, Formation,
Naturgeschichte der Alpen? Gut! So lies irgendeine Kunstgeschichte mit
möglichst vielen Abbildungen und möglichst wenig Text! Sie wird Dir viel-
leicht einiges erzählen können über die Entwicklung der Kunst innerhalb
der verschiedenen Rassen, Epochen und Gesellschaftsformen. Aber bilde Dir
nicht ein, daß Du durch irgendeine Kunstgeschichte zu tieferem Verständnis
oder zu größerem Genuß an irgendeinem Kunstwerk befähigt wirst. Genau
so wenig und genau so viel, wie ein geologisches oder historisches Werk
Deine Freude an den Alpen vermehrt und verstärkt, genau so viel und so
wenig verstärkt die beste Kunstgeschichte Dein Verständnis für irgendeinen
Maler, Deine Freude an irgendeinem Bild. Ein Tag in den Alpen selber ist
mehr wert als alle Führer und Bücher der Welt. Und eine einzige Stunde
im Louvre oder im Kaiser-Friedrich-Museum oder in irgendeiner Kunst-
ausstellung hilft Dir weiter als alle Kunstbücher, die Du in Deinem Leben
lesen kannst. Und noch die schäbigste Reproduktion eines Kunstwerkes ist
mehr wert für Dich als alles, was der Kunstschriftsteller Dir sagen kann.
Aber, sagst Du, für die hohen Berge brauchst Du einen Führer.
Führt dieser Führer Dich zum Verständnis, zur Freude, zum Genuß? Er
zeigt Dir etwas Neues, er macht Dich darauf aufmerksam. Er erklärt es
Dir nicht. Verlange doch auch vom Kunstschriftsteller nicht mehr! Er kann
Dich bei der Hand nehmen und Dich hinführen, wo es schön ist, vor Cezanne,
vor Giotto, vor Picasso und vor Paul Klee. Das ist alles, was er kann.
Du verlangst, „eingeführt“ zu werden? Aber es gibt auf der Welt nur
einen Menschen, der Dich „einführen“ kann. Das bist Du selbst. Du selbst
mußt sehen und empfinden! Es nützt Dir nichts, wenn andere es tun.
Der Kunstschriftsteller kann Dir nur sagen, was e r vor einem Bilde
fühlt und denkt, wie e r darüber urteilt. Wenn Du dies Urteil nachbetest,
so ist es deshalb noch lange nicht Dein Urteil. Die größte Dummheit,
wenn es nur Deine eigene Dummheit ist, ist wertvoller als die größte
Klugheit, wenn es nicht Deine eigene Klugheit ist. Was Du nicht aus Dir
selber hast, das hast Du geliehen (um nicht zu sagen: gestohlen), das gehört
niemals Dir, und Du wirst niemals wirkliche Freude davon haben.
Es gibt einen hübschen Vers von Fontane:
„Nur im Furioso nichts erstreben
Und fechten, bis der Säbel bricht!
Es muß sich Dir von selber geben.
Man hat es oder hat es nicht.

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