Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 19.1908

DOI Artikel:
Schmidt, Karl Eugen: Der Pariser Herbstsalon
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5784#0033

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
43

Der Pariser

Herbstsalon

44

soll. Daß man den großen englischen Radierer durch
die Zusammenstellung einiger sechzig seiner schönsten
Arbeiten geehrt hat, verdient ganz besonders den Dank
des Pariser Publikums, das sonst nicht gerade viel
Gelegenheit hat, diese Werke kennen zu lernen.

In der belgischen Abteilung lernen wir nicht viel
Neues. Wahrscheinlich hat der vorjährige große Er-
folg der retrospektiven russischen Abteilung die Leiter
des Herbstsalons auf diesen Gedanken einer belgischen
Ausstellung gebracht. Aber Rußland ist weit von
Paris, und wir wissen herzlich wenig von dem, was
sich dort zuträgt. Die russische Ausstellung brachte
also eine Fülle des Neuen und Interessanten. Belgien
aber ist schließlich nicht viel mehr als eine französische
Provinz. Brüssel hat natürlich weit, weit mehr selb-
ständiges Leben als etwa Lyon oder Bordeaux, aber
im Grunde sieht der belgische Künstler das Zentrum
doch weniger in Brüssel als in Paris, und wenn er
nach Ruhm und Ehren geizt, stellt er in Paris aus.
Der wunderliche Maler-Philosoph Wiertz, dessen Werk-
statt man in Brüssel besuchen kann, eiferte zwar sehr
gegen diesen Zustand und mahnte seine Landsleute,
nicht mehr Franzosen, sondern nur noch Belgier zu
sein, aber genützt hat das wenig, und Stevens, Rops
und hundert andere bekannte belgische Künstler sind
wirklich mehr Pariser als Brüsseler und ebensogute
Franzosen wie die aus Toulouse oder Marseille
stammenden, in Paris lebenden und schaffenden
Künstler. Aus diesem Grunde konnte uns die bel-
gische Ausstellung nur recht wenig Neues und Über-
raschendes bringen. Die modernen Baertson, Claus,
Ensor, Evenepoel, Frederic, Gilsoul, Khnopff, Laer-
mans, Smits, Struys, Rysselberghe, Wagemans, die
älteren Stevens, Rops, Meunier, Charles Degroux, den
man dereinst den Nebenbuhler Courbets nannte, weil
er seine Modelle in den unteren Volksklassen suchte,
der aber als Maler weit unter Courbet steht, Braeke-
leer, der einst mit Leys zusammen einen Triumphzug
durch Deutschland machte, sie alle sind in Paris ebenso
bekannt wie in Brüssel. Das einzige, was mir auffiel,
ist ein großes Waldbild von dem Radierer Rops, das
in seiner herbstlichen Farbenfreude an keinen anderen
als an Böcklin erinnert, und worin nur die beiden
Frauengestalten der Vorstellung entsprechen, die wir
von Rops haben.

Zu den lebenden Künstlern übergehend, müssen
wir zunächst bei dem Spanier Sert Halt machen, dem
man einen ganzen Saal und außerdem noch zwei
Galerien im Treppenhause eingeräumt • hat. Dieser
junge Künstler, dessen Name hier zum erstenmale
vor dem großen Publikum erscheint, hat die Aus-
malung einer ganzen Kathedrale unternommen: der
aus dem u. Jahrhundert stammenden, im 18. Jahr-
hundert aber renovierten und umgebauten Kathedrale
des Städtchens Vieh nördlich von Barcelona, Sert
stellt einige fertige Wandgemälde, mehrere Kartons
und die Skizzen der Gesamtarbeit aus. Natürlich
muß man eine solche Arbeit an dem Orte ihrer Be-
stimmung sehen. Einige der Malereien wird man
dort nur aus vierzig und mehr Metern Entfernung
sehen können, andere sollen die Wände "dicht über

dem Kopfe des Beschauers schmücken. Hier im
Salon, wo wir alles aus der gleichen Entfernung
sehen, kann man sich keine rechte Vorstellung von
der schließlichen Wirkung dieser Arbeiten machen.
Aber soviel ist sicher, daß Sert ein dekorativer Meister
ersten Ranges ist, der gewaltige Massen harmonisch
zusammenbringt und den Kolossalstil in einer Weise
beherrscht, die an keinen anderen als an Michelangelo
erinnert. Vielleicht gewännen diese Gemälde durch
mehr Klarheit im Gegenständlichen, malerisch aber
und raumschmückend sind sie einwandfrei, soweit
man sie im Salon beurteilen kann. Jedenfalls darf
man sich freuen über die geistlichen Herren des
spanischen Städtchens, die einem jungen Künstler eine
so gewaltige Aufgabe anzuvertrauen wagen. Es ist
kein Zweifel, daß wir nur deshalb so wenige Monu-
mentalmaler haben, weil die Gelegenheit zur Aus-
führung von Monumentalarbeiten fehlt. Es verdient
deshalb Anerkennung und Lob, wenn solche Gelegen-
heiten geboten werden, und ganz besonders, wenn sie
annoch unbekannten, jungen Künstlern geboten werden,
die sich wie Sert der großen Aufgabe gewachsen
zeigen.

Außer Sert ist im Salon kaum ein neuer Name,
der sich mit Wucht und Bestimmtheit dem Besucher
aufdrängt. Vielleicht wäre noch Lemordant zu nennen,
der für einen Speisesaal in der Bretagne einen sehr
wirkungsvollen Zyklus von Wandgemälden geschaffen
hat, Szenen aus dem bretonischen Volksleben, die mit
starkem und sicherem Farbensinn wiedergegeben sind.
Im übrigen finden wir die alten Leute an der Spitze,
die uns großenteils auch bei den Unabhängigen oder
in der Societe nationale begegnen. Maxime Dethomas
zeichnet tnit Farbenstiften Typen aus dem Alltags-
leben, die bald an Daumier, bald an Toulouse-Lautrec
erinnern, ohne darum der persönlichen Eigenart zu
entbehren; Rouault, der nur mit schwarz, blau und
rot operiert, hat diesmal das früher von ihm bevor-
zugte Freudenhaus verlassen und sich in den Justiz-
palast begeben, dessen Insassen er ebenso karikaturen-
haft und grausam schildert wie vorher die vertierten
Bewohnerinnen des Bordells; Vallotton gibt in überaus
korrekter Zeichnung in irdisch schmutziger Farbe und
ohne Luftambiante badende Frauen wieder, wie wir
sie schon früher von ihm gesehen haben; Castelucho
hat ein ganz ausgezeichnetes weibliches Bildnis, die
»Dame mit dem Affen«, ein Meisterwerk feinster Cha-
rakteristik und sicherster, bewußtester Technik, und
mehrere andere Bilder in seiner flotten farbenfrohen
Art; Manzana-Pissarro, der Sohn des impressionisti-
schen Meisters, sucht Fühlung mit Gauguin und
gibt seinen Gemälden durch verschwenderische An-
wendung von Gold ein halb exotisches, halb primi-
tives Gepräge; Martha Stettier stellt wieder einige von
frischer farbiger Luft durchwehte Szenen aus dem
Luxembourg-Garten aus; Albert Belleroche ist mit
einem vortrefflichen weiblichen Bildnis und mit einem
prächtig farbigen Herbstwalde vertreten; mehrere in-
teressante Russen, die wir von der vorjährigen russi-
schen Ausstellung kennen, wie Bakst, Juon, Kandinsky,
Roerich, Millioti, haben sich auch in diesem Jahre
 
Annotationen