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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 19.1908

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Riese, Alexander: Über Tizians sogenannte "himmlische und irdische Liebe"
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Die Kunst in Spindlersfeld
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https://doi.org/10.11588/diglit.5784#0129

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Die Kunst in Spindlersfeld

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einigt. Und wenn Statius und andere Dichter der
Antike sich vor solcher Freiheit nicht scheuen, warum
sollte es dann ein Maler der Renaissance tun?

Das Wappen auf dem Sarkophag, in dem Gnoli1)
das des venezianischen vornehmen Geschlechtes der
Aurelio erkannte, von denen einer, Nicolö, 1523 can-
celliere grande der Republik war, ist natürlich das
der bestellenden FamUie. Da Nicolö nach dem Zeugnis
des Sansovino eine »persona di molte lettere« war,
kannte er sicher das Gedicht des Statius. Daß ein
Hochzeitsbild zwei Wappen haben müsse, wie Petersen
meint, ist nicht zu beweisen. Es stellt einen quer-
geteilten Schild vor, im oberen Feld einen wachsenden
Löwen, das untere enthält ein Band (nach anderen ist
im unteren eine Schlange oder ein Wolkenschnitt zu
sehen)2). Es ist übrigens auf dem Originale ebenso
klar und deutlich, wie auf den meisten Abbildungen
unklar und verschwommen.

Daß Hochzeitsbilder damals üblich waren, quadri
da spose, erzählt Armenini von der Lombardei; auch
in Toskana und Rom und gewiß auch in Venedig
war es Brauch, einer Tochter außer der Mitgift noch
ein Bild von Wert in die Ehe mitzugeben; vergl.
J. Burckhardt, Beiträge zur Kunstgeschichte S. 302;
Artur Seemann, Der Hunger nach Kunst S. 68. Auch
unser Bild ist auf Bestellung entstanden; das bezeugt
nicht nur das Wappen darauf, sondern auch seine
eigentümliche Form — Höhe und Breite verhalten
sich etwa wie 4 zu 10—, die nur bei einer von
Anfang an dafür bestimmten Wandfläche — vielleicht
über einem Bett — zu verstehen ist. Ist doch auch
das Schloß im Hintergrunde links mit seinem Rund-
turm anders und charakteristischer gebildet als Tizians
gewöhnliche mehr konventionelle Landschaftshinter-
gründe; man möchte es gern für die Heimat der
jungen Frau oder ihren künftigen Wohnsitz halten;
sympathischer berührt die erstere Möglichkeit.

Ähnliche Elemente der Anordnung, aber ohne innere
Verwandtschaft mit unserem Bilde, zeigen z. B. die
von Petersen erwähnte, von v. Bezold publizierte
altflämische Medaille, ferner eine Verkündigung Mariä
in den Uffizien, die früher als Lionardo galt, jetzt
von Einigen dem Ridolfo Ghirlandajo zugeschrieben
wird. Auf beiden ist nämlich in der Mitte ein mar-
morner Sarkophag oder Wasserbecken, zu dessen
beiden Seiten je eine weibliche Figur sitzt; die eine
redet (mit auf dem Bild gleichfalls geschlossenem
Mund!) zu der anderen, die ihr aufmerksam lauscht;
auf ersterem Bilde ist die Lauschende, das »Heiden-
tum«, nur halb bekleidet. Damit sind die Ähnlich-
keiten aber erschöpft; zu erschließen ist aus ihnen
nichts. — Gegen einen Einfluß der altflämischen
Medaille spricht auch der Umstand, daß Tizians ganze
Kunst vom Mittelalter unberührt war; so daß z. B.
auch mittelalterlicheMiniaturen nicht ohnedie zwingend-
sten Beweise als seine Quelle angesehen werden dürften.

In anderer Art erinnert das vom Städelschen Institut

1) Rassegna^d'arte II (1902), 177. Daß ich Gnoli als
den Entdecker bezeichnete, muß ich gegenüber Petersen
S. 183, Z. 40 ausdrücklich betonen.

2) Vergl. Wickhoff, Jahrb. XVI (1895), 42.

hier neu^erworbene Bild des Palma Vecchio an' unser
Gemälde, und ist [eine Beziehung auch von G.;Swar-
zenskil) sofort angenommen worden. Zwei weibliche
Gestalten, die eine nackte, liegende, zu der anderen
eindringlich hingewendet und sie zu überreden suchend;
die andere halbnackte, sitzende, das Antlitz von jener
abwendend; dazu das üppige Grün der Umgebung
und der romantische Gesamteindruck: das sind Ähn-
lichkeiten beider Bilder, die überdies bis auf den Zenti-
meter gleich^ sind an Höhe. Doch geben der Sarko-
phag und besonders das Bild der vornehmen Dame
dem Tizianschen Gemälde auch wieder eine gewaltige
innerliche Verschiedenheit von jenem anderen, in dem
Swarzenski die Geschichte der Callisto nach dem
zweiten Buche der ovidischen Metamorphosen erblickt.
Ich wage über Beziehung zwischen beiden Bildern keine
Behauptung aufzustellen.

Unsere Deutung hat zuerst M. Thausing2) unbe-
stimmt vorgeahnt, indem er »Liebeswerbung« als
Titel wollte, aber leider allerhand Törichtes daran
anknüpfte. Den Titel »Überredung zur Liebe« schlug
zuerst Avenarius8) vor, der dabei den Stimmungs-
gehalt des Bildes etwas^sehra subjektiv auszudeuten
versuchte. Wickhoff stimmte bei, mißdeutete ihn
aber leider durch',seine Benennung »Venus und
Medea«. Auch Anton Springer fragt in neueren
Auflagen seiner Kunstgeschichte: »Ist nicht die Er-
klärung möglich, daß die spröde reichgekleidete Dame
von der Liebesgöttin zu einem anderen Sinne gebracht
werden soll?« und noch deutlicher ist die richtige Er-
kenntnis ausgesprochen bei Artur Seemann4), welcher
sagt: »Das Bild rechtfertigt die Bezeichnung Himmlische
und Irdische Liebe durchaus nicht. Vermutlich stellt
es die überredende Venus vor und ist als eine feine
Werbung aufzufassen, die ein Venetianer einer un-
entschlossenen Schönen zugedacht hat.« Alle diese
Äußerungen waren mir noch unbekannt, als ich die
in Rom vor dem Bilde zuerst dunkel gefühlte
Bedeutung nachher durch die Lektüre des Statius
bestätigt fand und sie daher zum ersten Male nicht
nur empfinden, sondern auch begründen konnte.

DIE KUNST IN SPINDLERSFELD

In Spindlersfeld? Ja, es ist so."In jenem östlichen
Vororte Berlins, wo die Fabrikschornsteine derSpindlerschen
Färberei ihre Ammoniakdünste zum Himmel schwelen, hat
man ein Denkmal errichtet. Vor 75 Jahren ist dieses zu
so großer Ausdehnung gelangte Unternehmen von Wilhelm
Spindler begründet worden, und zur Erinnerung an ihn
und seine Söhne haben die/jetzigen Inhaber den vor-
trefflichen Plan gefaßt, auch der Kunst in diesem der
Arbeit und nur der Arbeit gewidmeten Ortedie Entfaltungs-
möglichkeit zu geben. Am 1. Oktober vorigen Jahres ist
dort ein Monumentalbrunnen enthüllttworden, ein ganz
unkonventionelles Werk des Bildhauers Ernst Wenck. Der
Brunnen ziert einen runden weithin sichtbaren Platz und
trägt dem darin Rechnung, daß er von allen Seiten ein
Bild gibt. Ein nackter Jüngling, augenscheinlich ein Ver-

1) Frankfurter Zeitung, 9. Juli 1907-

2) Wiener Kunstbriefe. 1884- S. 324 «•]

3) Kunstwart 1893.

4) Der Hunger nach Kunst. 1901. S. 6t.
 
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