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Lieber Tizians sogenannte »Himmliche und irdische Liebe«
234
drängt: eine vornehme junge Dame in der Tracht von
Tizians Zeit lauscht sinnend auf die zu ihr hingewendete
Liebesgöttin. Also ist sie erstens keine mythologische
und keine Idealfigur, und zweitens: das Bild betrifft ihre
Liebe, Verlobung oder Hochzeit. Und darin sehe
ich das Bild beeinflußt durch ein analoges Gedicht
des damals viel gelesenen römischen Dichters Statins,
den schon Dante hoch ehrte (vergl. Purgatorio 21,85 ff.),
der auf Raffaels Parnaß angebracht ist1), der in einem
Dichterkampf unter Leo X. einen siegreichen Vertreter
hatte: diesen kann Tizian ebensowohl wie in anderen
seiner frühzeitigen Bilder den Catull und Philostrat
seiner Darstellung zugrunde gelegt haben.
In der Silvae des Statius ist das zweite Gedicht
des ersten Buches das Epithalamiam (Hochzeitsgedicht)
für Stella und Violentilla. Soweit hier erforderlich,
sei sein Inhalt mitgeteilt.
STATIUS' SILVAE I 2.
Amor hatte einen günstigen Augenblick benutzt,
um seine Mutter Venus für die Erfüllung der Liebes-
sehnsucht des jungen patrizischen Dichters Stella zu
gewinnen. Schon lange, sagt er ihr, habe er diesen
mit einer vollen Ladung aus seinem Köcher getroffen,
»Aber die Dame — so war dein Gebot — hab ich
mit der Fackel
Leicht nur gestreift, und kaum ihr die Haut geritzt
mit dem Pfeile.«
Und beweglich schilderte Amor seiner Mutter
Stellas Liebesschmerzen. Venus erwidert ihm mit einem
Preis der Schönheit der jungen Witwe Violentilla,
die sich eine zweite Ehe einzugehen weigert, aber:
»du, mein Sohn, wünschest es; wohlan, er soll sie
haben.« Und auf ihrem von Amor gelenkten Wagen
fährt Venus vom Olymp durch die Wolken vor den
Palast Violentillas nach Rom. Da herrscht," eitel Pracht,
ein dichter grüner Hain verbreitet anmutige Kühlung5),
und »in marmornem Becken sprudelt lebendiges
Wasser«3). Sie treffen die Herrin des Hauses auf
ihrem einsamen Ruhesitze leicht zurückgelehnt4), und
Venus redet sie wie eine Brautwerberin an: Lange
genug habe sie (dem ersten Gatten) die Treue gewahrt.
Der Jugend folge bald eine schlimmere Zeit. Nutze
deine Schönheit, genieße die Gaben der flüchtigen
Zeit! Nicht deshalb habe ich dir solche Schönheit,
Hoheit und Liebenswürdigkeit verliehen, damit du
einsam, ein Stiefkind der Liebesgöttin, deine Jahre
durchlebest. Sie solle sich, mahnt sie, dem trefflichen
Manne vermählen, der ihr von ganzer Seele zugetan
sei, der schön, vornehm, ein berühmter Dichter, alle
Vorzüge und Tugenden in sich vereinige und dem
eine glänzende Zukunft bevorstehe. Ihm widme deine
Jugend und werde seine Gemahlin!
Mit diesen Worten, fährt der Dichter fort, gewinnt
Venus die Spröde und »erfüllt sie mit stiller Achtung
1) Vgl. Wochenschrift f. klass. Philo!. 1902, S. 751 ff.,
1133 f-
2) Vers 154: Excludunt radios silvis demissa vetustis
Frigora. — 147: Digna deae sedes viridis.
3) Vers 155: perspicui vivunt in marmore fontes.
4) Vers 161: Tunc ipsam solo reclinem adfata cubili [est].
vor der Ehe«1). Und nun kehren ihr die Bitten,
die Tränen, die Geschenke, — es sind poetische Ge-
schenke: seine flehenden Liebeslieder an sie unter
dem Pseudonym Asteris, die in ganz Rom gesungen
wurden, — die ihr galten, in die Erinnerung zurück;
schon begann sie ihre
»Sprödigkeit gerne zu beugen und sich der Härte
zu zeihen«.2)
Und nun wünscht der Dichter dem erhörten Lieben-
den, der den ersehnten Hafen erreicht hat, alles Glück.
Aus dem Ende des Gedichtes sei nur noch ein Vers,
ein an.das Paar gerichteter Wunsch, angeführt:
»Schenket auch treffliche Nachkommen bald dem
römischen Reiche«3)!
* *
*
So viel von dem Gedichte. Wie dort Venus die
Herrin des Hauses antrifft und sie mahnend und ver-
lockend zur Liebe überreden will, und wie diese,
zuerst spröde zurückhaltend, allmählich aufzumerken
und die Sache zu bedenken anfängt, das konnte im
Bilde nicht wohl schöner dargestellt werden, als es
von Tizian geschah. Statt der dem Maler nicht dar-
stellbaren Rede dient ihm wirkungsvoll,'^wie oben
gesagt, der beredte Blick, und anderseits^ist für^die
Dame ebenso einfach wie kunstvoll ausgedrückt, daß
sie zwar gleichgültig erscheinen will/ in der Tat^aber
nachdenklich und gespannt lauscht. Auch alles
Liebe atmende Nebenwerk stimmt dazu bestens, das
Schmetterlingspaar, das Liebespaar rechts beim Dorfe,
das als Sinnbild der Fruchtbarkeit geltende Kaninchen-
paar (vgl. Statius Vers 266) und anderes, doch legen wir
darauf, wie oben gesagt, keinen Wert. So auch nicht
auf die Kassette oder Mandoline oder was^sonst, was
ihr so teuer ist, daß sie es so vorsichtig und sorgsam
umschließt (die zunächst Beteiligten werden es gewußt
haben!). Mit wohlüberlegter Freiheit behandelnder
Künstler Violentillas Palast. Die Marmorpracht, die
zahllosen Säulen und anderes, womit der Dichter prunkt,
paßt ihm nicht: er betont die digna'deae sedes viridis
(Vers 147), und nur den schattigen Hain und das
marmorne Wasserbecken4) (Vers 154 fg., s. oben) ver-
wendet er zu romantischer Gestaltung der Umwelt.
Wer nun etwa Anstoß daran nehmen wollte, daß
zwei mythologische Figuren und ein realistisches
Porträt sich auf einem und demselben Bilde befinden,
der wird durch andere Bilder Tizians widerlegt, be-
sonders durch die sogenannte »Allegorie desDavalos«,
ein Bild, das dieses Feldherrn realistisches Porträt
und seine Frau mit Viktoria, Amor und Hymen ver-
1) Vers 194: His mulcet dictis tacitoque inspirat honore
Coniugii.
2) Vers 195 ff: Redeunt animo iam dona precesque et
lacrimae . . . Asteris et valis totam cantata per urbem . . .
iamque aspera coepit Flectere corda libens et iam sibi dura
videri.
3) Vers 266 Eia age, praeclaros Latio properate nepotes!
4) Zu den vielen Deutungen seiner Figuren wüßte ich
noch eine hinzuzufügen, wonach die Gruppen das »Lob
der Keuschheit« ausdrücken; ich ziehe aber vor, auf solch
nutzloses Gedankenspiel zu verzichten.
Lieber Tizians sogenannte »Himmliche und irdische Liebe«
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drängt: eine vornehme junge Dame in der Tracht von
Tizians Zeit lauscht sinnend auf die zu ihr hingewendete
Liebesgöttin. Also ist sie erstens keine mythologische
und keine Idealfigur, und zweitens: das Bild betrifft ihre
Liebe, Verlobung oder Hochzeit. Und darin sehe
ich das Bild beeinflußt durch ein analoges Gedicht
des damals viel gelesenen römischen Dichters Statins,
den schon Dante hoch ehrte (vergl. Purgatorio 21,85 ff.),
der auf Raffaels Parnaß angebracht ist1), der in einem
Dichterkampf unter Leo X. einen siegreichen Vertreter
hatte: diesen kann Tizian ebensowohl wie in anderen
seiner frühzeitigen Bilder den Catull und Philostrat
seiner Darstellung zugrunde gelegt haben.
In der Silvae des Statius ist das zweite Gedicht
des ersten Buches das Epithalamiam (Hochzeitsgedicht)
für Stella und Violentilla. Soweit hier erforderlich,
sei sein Inhalt mitgeteilt.
STATIUS' SILVAE I 2.
Amor hatte einen günstigen Augenblick benutzt,
um seine Mutter Venus für die Erfüllung der Liebes-
sehnsucht des jungen patrizischen Dichters Stella zu
gewinnen. Schon lange, sagt er ihr, habe er diesen
mit einer vollen Ladung aus seinem Köcher getroffen,
»Aber die Dame — so war dein Gebot — hab ich
mit der Fackel
Leicht nur gestreift, und kaum ihr die Haut geritzt
mit dem Pfeile.«
Und beweglich schilderte Amor seiner Mutter
Stellas Liebesschmerzen. Venus erwidert ihm mit einem
Preis der Schönheit der jungen Witwe Violentilla,
die sich eine zweite Ehe einzugehen weigert, aber:
»du, mein Sohn, wünschest es; wohlan, er soll sie
haben.« Und auf ihrem von Amor gelenkten Wagen
fährt Venus vom Olymp durch die Wolken vor den
Palast Violentillas nach Rom. Da herrscht," eitel Pracht,
ein dichter grüner Hain verbreitet anmutige Kühlung5),
und »in marmornem Becken sprudelt lebendiges
Wasser«3). Sie treffen die Herrin des Hauses auf
ihrem einsamen Ruhesitze leicht zurückgelehnt4), und
Venus redet sie wie eine Brautwerberin an: Lange
genug habe sie (dem ersten Gatten) die Treue gewahrt.
Der Jugend folge bald eine schlimmere Zeit. Nutze
deine Schönheit, genieße die Gaben der flüchtigen
Zeit! Nicht deshalb habe ich dir solche Schönheit,
Hoheit und Liebenswürdigkeit verliehen, damit du
einsam, ein Stiefkind der Liebesgöttin, deine Jahre
durchlebest. Sie solle sich, mahnt sie, dem trefflichen
Manne vermählen, der ihr von ganzer Seele zugetan
sei, der schön, vornehm, ein berühmter Dichter, alle
Vorzüge und Tugenden in sich vereinige und dem
eine glänzende Zukunft bevorstehe. Ihm widme deine
Jugend und werde seine Gemahlin!
Mit diesen Worten, fährt der Dichter fort, gewinnt
Venus die Spröde und »erfüllt sie mit stiller Achtung
1) Vgl. Wochenschrift f. klass. Philo!. 1902, S. 751 ff.,
1133 f-
2) Vers 154: Excludunt radios silvis demissa vetustis
Frigora. — 147: Digna deae sedes viridis.
3) Vers 155: perspicui vivunt in marmore fontes.
4) Vers 161: Tunc ipsam solo reclinem adfata cubili [est].
vor der Ehe«1). Und nun kehren ihr die Bitten,
die Tränen, die Geschenke, — es sind poetische Ge-
schenke: seine flehenden Liebeslieder an sie unter
dem Pseudonym Asteris, die in ganz Rom gesungen
wurden, — die ihr galten, in die Erinnerung zurück;
schon begann sie ihre
»Sprödigkeit gerne zu beugen und sich der Härte
zu zeihen«.2)
Und nun wünscht der Dichter dem erhörten Lieben-
den, der den ersehnten Hafen erreicht hat, alles Glück.
Aus dem Ende des Gedichtes sei nur noch ein Vers,
ein an.das Paar gerichteter Wunsch, angeführt:
»Schenket auch treffliche Nachkommen bald dem
römischen Reiche«3)!
* *
*
So viel von dem Gedichte. Wie dort Venus die
Herrin des Hauses antrifft und sie mahnend und ver-
lockend zur Liebe überreden will, und wie diese,
zuerst spröde zurückhaltend, allmählich aufzumerken
und die Sache zu bedenken anfängt, das konnte im
Bilde nicht wohl schöner dargestellt werden, als es
von Tizian geschah. Statt der dem Maler nicht dar-
stellbaren Rede dient ihm wirkungsvoll,'^wie oben
gesagt, der beredte Blick, und anderseits^ist für^die
Dame ebenso einfach wie kunstvoll ausgedrückt, daß
sie zwar gleichgültig erscheinen will/ in der Tat^aber
nachdenklich und gespannt lauscht. Auch alles
Liebe atmende Nebenwerk stimmt dazu bestens, das
Schmetterlingspaar, das Liebespaar rechts beim Dorfe,
das als Sinnbild der Fruchtbarkeit geltende Kaninchen-
paar (vgl. Statius Vers 266) und anderes, doch legen wir
darauf, wie oben gesagt, keinen Wert. So auch nicht
auf die Kassette oder Mandoline oder was^sonst, was
ihr so teuer ist, daß sie es so vorsichtig und sorgsam
umschließt (die zunächst Beteiligten werden es gewußt
haben!). Mit wohlüberlegter Freiheit behandelnder
Künstler Violentillas Palast. Die Marmorpracht, die
zahllosen Säulen und anderes, womit der Dichter prunkt,
paßt ihm nicht: er betont die digna'deae sedes viridis
(Vers 147), und nur den schattigen Hain und das
marmorne Wasserbecken4) (Vers 154 fg., s. oben) ver-
wendet er zu romantischer Gestaltung der Umwelt.
Wer nun etwa Anstoß daran nehmen wollte, daß
zwei mythologische Figuren und ein realistisches
Porträt sich auf einem und demselben Bilde befinden,
der wird durch andere Bilder Tizians widerlegt, be-
sonders durch die sogenannte »Allegorie desDavalos«,
ein Bild, das dieses Feldherrn realistisches Porträt
und seine Frau mit Viktoria, Amor und Hymen ver-
1) Vers 194: His mulcet dictis tacitoque inspirat honore
Coniugii.
2) Vers 195 ff: Redeunt animo iam dona precesque et
lacrimae . . . Asteris et valis totam cantata per urbem . . .
iamque aspera coepit Flectere corda libens et iam sibi dura
videri.
3) Vers 266 Eia age, praeclaros Latio properate nepotes!
4) Zu den vielen Deutungen seiner Figuren wüßte ich
noch eine hinzuzufügen, wonach die Gruppen das »Lob
der Keuschheit« ausdrücken; ich ziehe aber vor, auf solch
nutzloses Gedankenspiel zu verzichten.