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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 19.1908

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Eine Krisis in der Nationalgalerie
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https://doi.org/10.11588/diglit.5784#0180

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XIX. Jahrgang 1907/1908 Nr. 20. 27. März.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei.'— Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw. an.

EINE KRISIS IN DER NATIONALGALERIE

Hugo von Tschudi geht. Er hat zunächst ein
Jahr Urlaub »erbeten«; ob er nach Ablauf dieser
Frist seine Amtsführung als Direktor der National-
galerie wieder aufnehmen wird, erscheint trotz aller
offiziösen Dementis höchst zweifelhaft. Man liest es
mit heißem Zorn. Und sieht ihn vor sich: im besten
Mannesalter, voll kühner Pläne für die Zukunft, uner-
müdlich auf die Ausgestaltung einer Sammlung be-
dacht, die unter ihm aus einem unsäglich langweiligen
Bildermagazin zu jener Galerie neuerer Kunst um-
gewandelt wurde, der selbst verwöhnte ausländische
Kenner nachrühmten, daß sie die gewählteste von
allen sei.

Welches ist der Anlaß zu diesem überraschenden
Schritte? Mißhelligkeiten wegen des Ankaufes einer
Reihe von französischen Bildern werden angegeben.
Es sind beileibe keine Impressionisten! Die Klassiker
der französischen Landschaft: Rousseau und Corot,
ferner Troyon und Delacroix. Meisterwerke aus jener,
lange im Amsterdamer Städtischen Museum bewahrten
Privatsammlung, von deren Auflösung kürzlich auch
die »Kunstchronik« berichtet hat. Seit einer Reihe
von Jahren besteht eine Bestimmung, wonach alle in
Aussicht genommenen wichtigeren Neuerwerbungen
der Nationalgalerie vor ihrem Ankauf dem Kaiser
vorgeführt werden müssen. Er hat den Corot (der
in der Nationalgalerie noch nicht vertreten ist) refüsiert;
eine große Landschaft von Troyon, la vallee de Toques,
vielleicht sein bedeutendstes Werk, und zwei Land-
schaften von Th. Rousseau schienen den Beifall des
Monarchen zu finden. Nach einer Aussprache mit
dem Ministerium hielt Direktor v. Tschudi sich für be-
fugt, die Gemälde zu kaufen. Infolge eines geänderten
Entschlusses wurde jedoch die Bewilligung wieder rück-
gängig gemacht und dem Direktor wurde nun die Schuld
für den verfrühten Ankauf zugeschoben. So berichten
wenigstens die Zeitungen, und nach unseren Erkun-
digungen entsprechen diese Angaben den Tatsachen.

Die eigentlichen Gründe für die Entfernung oder
sagen wir es ruhig: Wegekelung des hochverdienten
Mannes liegen aber tiefer. Man weiß, daß schon
seit einer Reihe von Jahren in gewissen Kreisen der
Berliner Künstlerschaft, die leider bei Hofe Ohr und
Stimme haben, eine sehr heftige Propaganda gegen
den unerschrockenen »Modernisten« gemacht wird.

Nicht mit Unrecht wird als Wortführer dieser akademi-
schen Widersacher immer wieder Professor Paul
Meyerheim genannt. Und es ist charakteristisch, daß zu
den sachlichen Motiven — der angeblichen »unpatrio-
tischen« Bevorzugung ausländischer Kunst — auch
persönliche Verstimmung tritt. Herr von Tschudi hat
das Verbrechen begangen, den dekorativen Fries, mit
dem Meyerheim einst das Vestibül des dritten Stock-
werkes der Nationalgalerie schmückte, vorläufig ver-
decken zu lassen. Er paßte schlechterdings unmöglich
zu der gewählten Sammlung deutscher Kunstwerke
des 18. Jahrhunderts, die dort seit der Wiedereröffnung
der Galerie im vorigen Jahre untergebracht sind.
Hinc illae lacrimae! Vergessen diese Herren voll-
ständig die Verdienste des Direktors gerade um die
ältere Berliner Kunst? Fast die ganze Vormenzelsche
Gruppe von Gemälden, mit Ausnahme weniger Bilder
von Franz Krüger, Blechen und Magnus, ist erst von
ihm erworben worden. Was wußte man vorher von
Gärtner und Hummel? Für Gottfried Schadow hat
Tschudi mehr geleistet als alle Gelehrten und Literaten,
die geistreich über ihn geschrieben haben. Schließlich
die Gekränkten selbst. Der neue Katalog zählt sechs
Gemälde von Knaus, zwei von Anton von Werner,
zwei von Paul Meyerheim auf — man darf bezweifeln,
ob der Nachwelt diese Vertretung als zu wenig
ausreichend erscheinen wird! Als wesentlichstes
Moment kommt noch hinzu, daß H. von Tschudi
seinen künstlerischen Standpunkt auch dem Monarchen
gegenüber stets mit Freimut und Offenherzigkeit ver-
teidigt hat. Er war zu wenig Diplomat. Er ist un-
bequem geworden. Damit ist in vier Worten die
Sachlage gekennzeichnet.

Was nun? Schon werden als Stellvertreter oder
Nachfolger die Herren Knackfuß und Hertel genannt.
Die an eine solche Desavouierung der deutschen
Kunstwissenschaft glauben, vergessen, daß auch die
Nationalgalerie, wenn auch nur im verwaltungstech-
nischen Sinne, der Generaldirektion der Königlichen
Museen unterstellt ist. Und Wilhelm Bode ist nicht der
Mann dazu, eine derartig reaktionäre Maßregel gutzu-
heißen. Dies ist jedenfalls dem Nachfolger vorauszu-
sagen, daß er einen schweren Stand denen gegenüber
haben wird, die in der Tschudischen Reformierung
der Nationalgalerie eine nationale Tat von größter
kultureller Bedeutung erblicken. Und sie werden, es sind
 
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