Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 19.1908

DOI Artikel:
Schmidt, Karl Eugen: Pariser Brief, [4]
DOI Artikel:
Wolf, August: Neues aus Venedig, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5784#0214

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
405

Neues aus Venedig

406

schaften, der Engländer Shore venezianische Veduten,
worin er diesem allzu oft behandelten Thema eine
neue malerische Note abgewinnt, Louis Sue außer
mehreren Bildnissen und Landschaften zwei ausge-
zeichnete Stilleben, Elsa Weise vier oder fünf koloristisch
sehr ansprechende Arbeiten. Von den Skulpturen
seien die hübschen kleinen Bronzen von Perlemagne,
Marquet, Namur und Clostre, sowie die vortrefflich
beobachtete Gruppe der »Soupe aux Halles« von
Dihl de Pigage erwähnt.

Boleslas Biegas, der polnische Maler, dessen Bilder
aus dem Salon der Unabhängigen entfernt wurden, weil
er sich das Vergnügen gemacht hatte, den deutschen
Kaiser nackt und in wenig ehrenhafter Beschäftigung
darzustellen, hat eine Sonderausstellung in der Galerie
des Artistes modernes in der Rue Caumartin gemacht.
Daselbst erlebte ich eine angenehme Überraschung,
aber freilich nicht durch Biegas. Dieser Künstler ist
nicht ohne Talent, und einige seiner Büsten wie auch
einige kleine Bronzen zeugen dafür, daß er ganz
tüchtige Sachen schafft, wenn ihn — nun, sagen wir,
wenn ihn der Alpdruck einen Augenblick verläßt.
Leider ist das nur sehr selten der Fall. Fast alle seine
Skulpturen und Malereien haben etwas Verrücktes und
Tolles an sich. Biegas sieht Gespenster, aus allen
Ecken und Winkeln starren ihn unheimliche Gesichter
an. Das heißt, mit ihrer Unheimlichkeit ist es nicht
weit her, aber jedenfalls möchte der Künstler sie so
unheimlich wie möglich gestalten. Er malt das Meer,
und eine jede Welle zeigt ein menschliches Gesicht,
das uns sphinxartig anschaut. Er malt den Himmel,
und jede Wolke hat ihr schauriges Gesicht, er malt
den durch die Bäume sausenden Wind, und die Wolken,
die Bäume, die Winde, alle haben sie menschliche
Gesichter. Er modelliert eine geisterhafte Gestalt in
langem Gewand, und jedes Kräuseln des Gewandes
wird zum Gesicht, er formt einen Riesenkopf, und
jeder Augapfel, jede Haarlocke ist ein menschliches
Gesicht. Das ist einfach verrückt, und mit solchen
Mittelchen wird man nicht tief und erhaben, sondern
komisch und lächerlich.

Die angenehme Überraschung fand ich in einem
anderen Räume der nämlichen Galerie. Da hat der
ausgezeichnete Landschafter J. J. Gabriel eine Reihe
seiner außerordentlich feinen Bilder ausgestellt. Und
bei Gabriel merkt man auf einmal wieder, was eigent-
lich ein wirklicher Künstler ist. Der sucht nicht durch
schaurige, seltsame, unerhörte Einfälle, durch Visionen
oder Träume zu verblüffen und zu interessieren, son-
dern er schreibt schlicht und einfach hin, was in
seiner Seele klang und sang, als er vor der Natur
stand. Das ist die schöne, liebe, anheimelnde Kunst
der Landschafter von Barbizon, die noch nichts wußten
von dem modernen Bauernfang in der Malerei. Gabriel
ist ein Dichter von zartester Poesie und zugleich ein
Maler von entzückender Technik. Denken Sie sich
Corot, den Corot der Silberstimmungen von Ville
d'Avray, und dazu einen hellen, frohen Farbenton,
der durch die feinen Silberschleier seine fröhliche
Melodie singt, ohne jemals laut oder aufdringlich zu
werden. Gabriel ist so zart und innig wie Corot,

aber zugleich etwas lebendiger, fröhlicher, wirklicher.
In Corots Landschaften sind eigentlich nicht wirkliche
Menschen und Tiere daheim, sondern überirdische
Fabelwesen, die Töchter Erlkönigs, die Musen, die
Nymphen des Haines und des Sees. Gabriels Land-
schaften zeigen die gleiche wunderbar poetische und
liebevolle Wiedergabe der Natur, aber sie verlassen
darum die Wirklichkeit nie, statt der überirdischen
Frauengestalten Corots sieht man bei ihm trinkende
oder weidende Kühe, und diese Kühe werden durch
Licht und Luft, das heißt durch die Kunst des Malers
so verklärt, daß sie nicht weniger poetisch sind als
die Nymphen Corots. Gabriel ist ein feiner Poet und
ein großer Maler. KARL EUGEN SCHMIDT.

NEUES AUS VENEDIG
»Nichts ist beständiger als der Wechsel!« Dies be-
weisen die neuerdings vorgenommenen abermaligen Um-
hängungen in der hiesigen Galerie der Akademie; glücklicher-
weise zugunsten der einzelnen Bilder. So kam endlich nach
einer langen Reihe von Jahren der sogenannte Seesturm,
einst dem Oiorgione zugeschrieben, dann dem Palma und
Paris Bordone, zu seinem vollen Rechte und nimmt nun den
Platz im Herkulessaale ein neben des Paris Bordone präch-
tigem Legendenbilde des Fischers mit dem Ring des Dogen,
das letztere Bild ergänzend und erklärend. Aus eben diesem
Saale ist das unangenehme Paradiesesbild des Bordone
entfernt und in den dunklen Korridor verbannt worden.
Auch wurde endlich die unschöne störende kleine Zwischen-
wand dieses Saales entfernt, so daß der Blick nach des
Canova Herkulesgruppe wieder frei wurde, welche ja
neuerdings das Interesse wieder in Anspruch nimmt durch
die Aufstellung des Marmororiginals im Palast Corsini in
Rom. Auf Anregung des Direktors der Galerie Borghese,
Cantalamessa, hat man nun auch die beiden hierher ver-
schlagenen Büsten des Gründers jener Galerie, des Kardinal
Scipio Borghese, dahin zurückgeschickt, wohin sie gehören,
nach Rom, und zwar in genannte Galerie. Sie waren
seinerzeit von den Borghese durch die Regierung gekauft
worden, und beide, das verunglückte erste Exemplar, so-
wie die Kopie hierher geschickt worden, obgleich sie mit
Venedig gar nichts zu tun hatten. — Von einigen Neu-
erwerbungen ist überdies zu berichten. Zunächst erscheint
mir als wichtig diejenige einer »Verkündigung« von Pier-
maria Penacchi (1464—1514). Das Werk bildete die Orgel-
flügel in Sta. Maria miracoli. Im Anfang des 19. Jahrhunderts
wurde die Orgel ihres Schmuckes beraubt. Die Madonna
wurde nach S. Fancesco della vigna gerettet, der Verkün-
digungsengel nach England verkauft. Es gelang nun dieser
Tage, den Engel in London in Privatbesitz aufzufinden und
zu erwerben, ebenso eins der beiden rückseitigen, ebenfalls
auf Leinwand gemalten Bilder und zwar S. Pietro; S. Paolo
dagegen scheint verschwunden zu sein. — Auf die Ma-
donna hatte, als der Regierung gehörig, die Galerie ein
Recht. So ist denn das Ganze jetzt zusammengestellt und
bildet eine der Zierden unserer Galerie. In lebensgroßer
Figur sehen wir Maria an ihrem reich mit Elfenbeinintarsia
geschmückten Betpulte in einem mit prachtvollem Marmor
getäfelten und mit vergoldeter Kassettendecke versehenen
Räume knien. Ihre Linke liegt auf dem aufgeschlagenen
Buch, die rechte Hand legt sie demutsvoll auf die Brust,
ruhig vor sich blickend. Ihre Gestalt löst sich von einem
tiefroten samtnen Vorhang; hinter demselben eine ins
Freie führende offene Türe. In der Ferne auf einer Höhe
ein burgähnliches Gebäude. Der Engel kommt raschen
Schrittes von der entgegengesetzten Seite, in wehendem
 
Annotationen