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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 19.1908

DOI Artikel:
Schmidt, Karl Eugen: Pariser Brief, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5784#0212

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

»«■WC«

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XIX. Jahrgang 1907/1908 Nr. 24. i. Mai.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw. an.

PARISER BRIEF

(Schluß aus voriger Nummer)

Bei den Unabhängigen ist mir heuer eine Idee
gekommen, die mich mit Freude und Stolz erfüllt.
Die Idee nämlich, daß es viel leichter sein muß, Bilder
zu malen als Bücher oder auch nur Zeilungsartikel zu
schreiben. Leichter und billiger. Es kostet weniger
Zeit und weniger Geld, denn die Herren Verleger
pflegen die Dilettanten der Literatur nicht so leichten
Kaufes durchzulassen. Der malende Dilettant aber
braucht nur seine Leinwand, Pinsel und Farben an-
zuschaffen, und obendrein hat er die Genugtuung,
daß sein Bild im Salon von ebensovielen Besuchern
gesehen wird, wie alle anderen Bilder. Läßt er da-
gegen auf seine Kosten ein Buch drucken, so kauft
und liest es kein Mensch. Das ist also der Grund,
warum heutzutage jedermann malt, nicht nur die pro-
fessionellen Maler, die man bei den Artistes francais
und in der Societe nationale sieht, sondern auch die
Postbeamten, die Offiziere, die Eisenbahnbeamten, die
Angestellten der Stadt Paris, die Advokaten und Richter
des Justizpalastes, die alle ihre regelmäßige j'ährliche
Kunstausstellung veranstalten. Zu ihnen gesellen sich
die Unabhängigen, die zum sehr großen Teil eben-
falls Dilettanten sind.

Und der größte Teil dieser Dilettanten verfolgt
keineswegs künstlerische Ziele. Vielmehr streben die
Braven danach, ihre politischen oder philosophischen
Überzeugungen einem möglichst großen Kreise mit-
zuteilen. Eigentlich sollten sie das durch ein Buch
tun, aber das ist nicht ganz leicht. Wenn man sich
selber nicht klar ist über das, was man eigentlich
sagen will, wird die Literatur außerordentlich schwierig,
denn man muß schon das Werkzeug der Sprache
gehörig benutzen können, um die Leere und Unklar-
heit der Gedanken hinter einem Schwall von Worten
zu verbergen. In der Malerei ist das viel leichter,
und das ist ohne Zweifel einer der Gründe, warum
die malenden Männlein und Weiblein überhand nehmen
wie die Heuschrecken und die Sardinen.

Da will ein Russe seine revolutionären Landsleute
zur Einsicht und Umkehr ermahnen. Statt das Buch
oder den Aufsatz zu schreiben, wozu er nicht imstande
ist, malt er ein großes Bild und nimmt sogar noch
zur Skulptur seine Zuflucht, damit uns nichts von
seinen Gedanken verborgen bleibe. Auf dem Bilde

sieht man einen hübschen jungen Mann und hinter
ihm eine ebenfalls nicht häßliche junge Dame; wo
das Bild unten aufhört, fängt die Plastik an, Plastik
mit Farbe natürlich; man sieht da fünf oder sechs
Hände, die aus einer Art Urschlamm herauswachsen,
eine dieser Hände hält einen Becher, aus dem dicke
Blutströme hervorquellen, eine andere Hand scheint
eine Bombe zu halten, was die andern treiben, habe
ich nicht begriffen. Oben über der Sache aber steht
die geheimnisvoll schauerliche Inschrift: »Wartet!
Morgen! Gedenket der unschuldigen Kindlein!« Im
Katalog findet man dann, daß der hübsche junge
Mann der Mörder des Großfürsten Sergius ist. Wer
die Dame ist, kann man sich dazudenken: die Nemesis
oder die Freiheit oder die Gerechtigkeit oder die
Menschlichkeit oder das Leibweh oder die Cholera,
ganz wie man will.

Solcher Schalksnarren gibt es bei den Unabhängigen
an die Tausend. Kant soll bei einer Gelegenheit
gesagt haben, mitunter entständen Blasen im mensch-
lichen Körper; wenn diese Blasen nach unten sänken,
so gäbe es Blähungen, gingen sie aber nach oben,
so würden Bücher daraus. Heutzutage und besonders
in Paris werden nicht sowohl Bücher als Bilder aus
diesen mißratenen Blähungen. Am meisten scheinen
an dieser Krankheit die Slaven und die Skandinavier
zu leiden. Zwar betätigen sie sich alle in Paris, aber
nur die allerwenigsten malenden Philosophen und
Politiker bei den Unabhängigen sind Franzosen. Am
tiefsten und unverständlichsten sind die Skandinavier,
bei denen man mitunter — aber freilich recht selten —
auch einen malerischen und künstlerischen Gedanken-
blitz neben der philosophischen Blähung findet, am
grimmigsten und handgreiflichsten die Polen.

Es ist merkwürdig, wie allgemein die Polen von
der Politik beherrscht werden. Selbst die Tschechen,
die doch auch gewaltige Politiker und Patrioten sind,
vergessen nicht so gänzlich, daß Politik nichts mit
Kunst zu tun hat. Die Polen sind in Paris die aller-
grimmigsten Revancheschreier und Preußenfresser.
Kein Franzose denkt heute mehr daran, ein deutschen-
feindliches, auf Revanche dringendes Bild zu malen,
aber die Polen sind zur Stelle und mahnen den ver-
geßlichen Franzosen an seine patriotische Pflicht. Einer
von ihnen hat es in diesem Jahre so toll gemacht,
daß der Polizeipräfekt einschreiten und die anstößigen
 
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