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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

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Heft 3 (Dezemberheft 1929)
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Rang, Bernhard: Volk und Volksbildung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0177

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elwa Mcnschen des gleichen Hauses, der N'achbarschaft voneinander Lrennk.
Die Erfahrung lehrt, daß jede Menschengemeinschaft auf GegensäHen beruht.
Auch die Volksgemeinschaft wird immer — entgegen allen romantischen An-
schauungen — ein höchs! vages und schwankendes Abbild echter Zueinander-
gehörigkeit, echtcr Lebens- und Daseinsordnung darslcllen. Was ist denn
„Volk", sofern man nicht bloß die unteren Schichten eines Stände- oder
Klasscnstaates damit bezeichnet? Nur historisch könnte die Frage einigermaßen
befriedigend beantwortet werden: die Geschichte des Volkcs aber ist ein un-
unterbrochener Gärungs- und Ilmwandlungsprozeß; nur mit den heftigsten
und nic cndenden Kämpfen, Siegen und Niederlagen ist der Naum des Volkes
erfüllt. Doch diese ständigen Einzcl-, Gruppen-, Schichten-, Stände- und
Klassenkämpfe, so sehr sie den Urstosf der menschlichen Geschichte darstellen,
so sehr sie sich ösfentlich in Rechtsakten, Urkunden, Bürgschaften nnd Siche-
rungen jeder Art dokumentieren, vollziehen sich doch gleichsam im Dunkel,
von ungekannten Muchten bewegt, von nie genannten Trägern durchlitten. Und
Volk isi nicht Staat. Allzu leicht werden noch immer diese hisiorisch, sozio-
logisch wie wesensmäßig grundverschiedenen Größen miteinander verwcchselt.
Es isi hier kcin PlaH für absirakte Defim'tionen. Ganz gewiß isi, wie das
Wort besagt, der Staat nur der status oder Stand, der die jeweilige Form
des ösfentlichen Lebens aufzeigt. Daß wir von dieser Einsiellung her in der
Gegenwart eigentlich ohne realen Skaat leben, höchsiens mit der idealen Fik-
tion eines Staates, beweisi nur erneut, wie verschütket unser ösfentliches Ge-
mcinschaftsleben isi, beweisi aber noch nicht, daß wir kein Volk haben oder
sind. Denn Volk isi einc vorgefundene fakkische Verbundenheit, keine geisiige,
wohl aber eine soziale Gegebenheit, deren Erisienz, wie verborgen auch immer,
das Menschendasein ursprünglich vcrbürgk. Man isi zuerst Kind seines Volkes,
bevor man individuelle Persönlichkcit wird. Das Erwachen des Menschen
geschieht — so einzig und unwiederholbar jcde Menschenseele isi — primär
durch insiinktives Nachahmcn und Versiehen der llmwelt, der kraditionellen
Mitwelt. Ilnser Dasein isi jederzeik ein Mit-sein, nichk nur im Sinne des
Angewiesenscins auf einander, sondern des ursprünglichen Eins-seins. Aber
dieses Zusammensein als Volk, so sehr scin Bewußtsein in uns durch die
rationalistifche Verbildung, durch die Staatsvormundschafk des Absolutismus
(und noch immer siccken wir tief im „Obrigkeitssiaat"!) verschüttet ist, kann
nicht, auf welche Weise auch immer, gebildek oder geschasien werden. Volk
ist wie jeder Menschensiand eine uns gegebene Ordnung, die wir einhalten,
erfüllen und bewahren können, in die wir uns immer neu eingliedern können,
die wir aber niemals weder von außen noch von innen zielmäßig schaffen kön-
ncn, wenn ihre Daseinszeit „erfüllt" und erschöpfk und ihre Ordnung
zerrüktet scheink. Es gibt gewisse llrsiände unseres irdischen Daseins,
die, ob wir sie nun erfüllcn oder nicht, unzersiörbar bleiben. Gogarten vor
allem hat mit ernsiesiem Nachdruck auf diese „Stände" hingewiesen: der Ehe,
des Berufes, des Amkes, des Vaters, des Kindes, des Gatten —, deren Formen
heute zu llnrecht als unwirksam bezeichnet werden. Auch das cigene Volk,
wie zerfallen und aufgelösi seine Ordnungen sein mögen, gehörk zu jenem
„Skand" oder Ork, dcn wir uns nicht erwählen können, dem wir entwachsen,
den wir verlieren, den wir aber nie selbsitäkig uns bilden und erschasfen könncn.
 
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