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Kunstwart und Kulturwart — 26,4.1913

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Heft 19 (1. Juliheft 1913)
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Avenarius, Ferdinand: Reisen
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Göhler, Karl Albert: Vogelgesang
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https://doi.org/10.11588/diglit.14284#0021

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Zugehörrgkeit zu allern, was fleucht und kreucht, keimt und sich aussät,
und sich, wenn es zu vergehen scheint, nur verwandelt. Dieses alles
lösende Gefühl der vollkommenen inneren Sicherheit. Man ist dabei
draußen und wieder daheim so> gut aufgehoben, daß man hinter all
dem Verworrenen und Bunten, hinter all dem Hastenden, Lauten,
Schrillenden und Kreischenden der modischen Tagtäglichkeit die große
reiche Ruhe snhlt, wie hinter Laternen, Signalen und Lichtreklamen
den Sternenhimmel. A

Vogelgesang

^^-^^enn man eine Reise tut, so trachte man, mit allen Sinnen die

S A HNatur zu genießen. Also auch die Ohren mitnehmen und auf-
-^^^knöpfen! Alles, was da tönt draußen, aus dem Wasser, aus den
Halmen und Blättern, hat seine Poesie im Ohre des empfänglichen Men-
schen. Rnd nun gar die Vögel! Aus den Stimmen der lieben Ge-
schnäbelten und Gefiederten klingt der ganze Frühling.

Leider gehört es nun mit zu den besonders schlimmen Aubegreiflich-
keiten, daß die Schule bislang den Vögeln und zumal ihrem Gesange
gegenüber so versagt hat, während man in botanischer Hinsicht sich ja
eigentlich kaum beklagen kann. Botanische Kenntnisse lassen sich aller-
dings auch leichter aus der Anschauung vermitteln, als ornithologische.
Ausgestopfte Bälge geben vom Wesen des Vogels keinen Begriff. Also
nicht nur botanische, sondern auch ornithologische Ausflüge müßten die
Lehrer mit den Schülern machen und ihnen dabei die wichtigsten Vogel-
stimmen erklären.

Da spaziert man mit Leuten im Walde herum, gebildeten, und man
erlebt's, daß sie kaum imstande sind, eine Drossel von einer Amsel mit
dem Ohre mit Sicherheit zu unterscheiden! Damit aber sind die Grund-
typen des Vogelsanges gegeben. Die Drossel nämlich schlägt, rhhth-
mische Motive, in drei- bis viermaliger Wiederholung, die Amsel dagegen
flötet, ist reiner Melodiker und Gefühlsmusikant, alle schärferen Am-
risse und Linschnitte fehlen bei ihr. Lurdus mnsicus, die Singdrossel,
die komponiert, in Perioden und streng in der Form, Frau Merula da-
gegen, die phantasiert bloß. Wo das größte Vogelgenie, die Nachtigall,
fehlt — ach, und in wie vielen Gegenden Deutschlands fehlt sie leider, so
zum Beispiel in ganz Südsachsen! — da ist die Singdrossel die Lehr-
meisterin des Waldes, die veredelnd einwirkt auf alle Singeschnäbel um
sie herum, soweit sie zu den Mischern und Spottvögeln gehören, während
natürlich die übrigen Originalsänger auch ihre eigenen Noten haben, die
Grasmückenarten, die Lerchen usw. Sprosser und Nachtigall sind aller-
dings die begabtesten Originalsänger, die beiden Hauptgenies, und glück-
lich zu preisen ist die Gegend, wo sie an Stelle der Singdrosseln die Lehr-
meister sind. Die Nachtigall in ihrer weiblichen, holden Anmut und
schönheitstrunkenen, süßen Sinnlichkeit, die ist gewissermaßen der Mozart
unter den Singvögeln, und der Sprosser mit seinen charaktervollen, knappen
Baßmotiven und der zusammengepreßten elementaren Leidenschaft des
Vortrags, der ist der Beethoven, der große Lharakteristiker.

Die Linteilung der Singvögel in Originalsänger, Mischer und Spötter
ist alt und bestand schon vorm alten Bechstein. Die Mischer mischen
ihren eigenen Motiven sremde bei, die sie den Gesängen anderer Vögel

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