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Kunstwart und Kulturwart — 26,4.1913

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1913)
DOI Artikel:
Nidden, Ezard: Krisis in der Literaturwissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.14284#0226

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Iahrg.26 Erstes Augustheft 1913 Heft 21
Krisis in der Literaturwiffenschaft

eit vielen Wochen sind zwei wichtige deutsche Lehrstühle unbesetzt.

Der literaturwissenschaftliche Erzieher und Bildner der Auslese

österreichischer Studenten, Iakob Minor, starb vor wenigen Mo«
Naten; sein nicht minder einflußreicher preußischer Amtgenosse, Erich
Schmidt, folgte ihm bald in den Tod. Seither suchen die Verant-
wortlichen mit ebensoviel Eifer wie Mißerfolg nach würdigen Nach-
folgern der beiden „Könige" ihres Wissenschaftbereichs. Gibt es keine?
oder welches Anheil waltet hier? Es ist der Mühe wert, dieser Frage
und den mannigfachen Versuchen zu ihrer Lösung nachzugehen.

Am bequemsten machen es sich jene Auguren, welche mit viel-
sagender Miene den maßgebenden Stellen „vorurteillose" Entschlos-
senheit empfehlen, wenn auch in solchen Ratschlägen die Dinge nicht
gern bei Namen genannt werden. Wer hier etwas von den Verhält-
nissen kennt, weiß, daß fünf oder sechs der etwa in Frage kommenden,
aber offiziös noch nicht gemeldeten Kandidaten „persönlich" nicht
genehm scheinen, da sie entweder mosaischen Glaubens oder wenig-
stens jüdischer Abkunft sind. Auch wer meint, daß in dieser Wissen-
schaft jetzt vor allem eine geistig starke und bedeutsame Leistung nottue,
wird dem Empfinden vielleicht Verständnis entgegenbringen, das eine
an Einfluß so reiche Stelle in der deutschesten der deutschen Wissen-
schaften nicht der Rasse nach nichtdeutschen Männern anvertraut
wünscht.

Andre wieder verfechten eine soziale und wirtschaftliche Theorie
über den augenblicklichen Notstand. Während sonst für freigewordne
Professuren meist eine ganze Reihe von Namen, wenigstens der
Würdigkeit nach, genannt würden, stoße man hier auf eine sehr be-
zeichnende Lücke. Die Beschäftigung mit der Literaturwissenschaft sei
unrentabel, Privatdozenten dieses Faches fänden zu wenig Betäti-
gung und müßten zu lange auf einen befriedigenden Posten warten.
Fehler der wissenschaftlichen und der hochschulischen Organisation
lägen dem Äbelstand zugrunde. Große Universitäten wie Berlin bieten
dafür Beispiele, und ich bin der letzte, jene Fehler zu bestreiten. In
der Tat sind die zahlreichen Lehramtkandidaten, die künftigen Lehrer
des „Deutschen^, die eigentlichen vorbestimmten Hörer der Literatur-
wissenschaft; und sie sind durch veraltete Studienpläne vor allem
an ein Abermaß sprachwissenschaftlicher Kollegien gebunden, sie haben
für die deutsche Dichtung wenig Zeit in ihren stoffbedrängten Stu-
dentenjahren, die wenige aber widmet jeder Zielbewußte am liebsten
wohlbedacht dem ordentlichen Professor, von dem er in der Prüfung
abhängig sein wird. Daß die Privatdozenten mit ihnen so in tieferen
Zusammenhang nicht kommen können, leuchtet ein. Indem die mini-
steriellen Halbgötter vor die Poesie den Schweiß germanistischer Bil-
dung setzten, haben sie allerdings den Weg zu ihr für Viele ab-
schreckend gestaltet.

l- Augusthest
 
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