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Kunstwart und Kulturwart — 26,4.1913

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1923)
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Stapel, Wilhelm: Das gesetzlose Automobil
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https://doi.org/10.11588/diglit.14284#0428

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Das gesehlose Automobil

n einem Frühjahrssonntag waren wir im Vorortzug von Berlin

zu den tzavelseen hinansgesahren, um draußen einen Tag lang
^^zu wandern. Tausende fluteten anf der Landstraße hin und
her, alle hatte die Sehnsucht nach blühenden Kirschbäumen, nach den
ersten Wiesenbtumen, nach Wald und freier Luft herausgelockt. Aber
sie wurden schwer enttäuscht. Staub in der Luft, so daß man keine
zehn Schritt weit sehen konnte; dicker Staub auf dem ersten Grün
am Landstraßensaum, so daß jeder Schritt durchs Gras weiße Wölk-
chen aufwirbelte. Denn ein Automobil jagte das andere. Bald vorn,
bald hinten kreischten und heulten die tzupen, um die Menge an die
Grabenränder zu scheuchen. Lange Streifen blauen Dampfes und
Heeressäulen grauen Staubes folgten den Wagen nnd lagerten breit
in der unbewegten Luft. Da zogen wir Tausende Volks durch die
zur Wirklichkeit gewordene Hölle Dantes. Schweißtriefend kamen
wir am Spätnachmittag heim, Mund und Nase mit Schmutz ver-
klebt, die Haut mit einem zähen Teig überkrustet. Ironisch lächelt der
Bürger, der „es sich leisten kann": wer wird auch ausgerechnet am
Sonntag in Berlin einen Ausflug machen? Wer? Alle, die sechs
Tage der Woche in Kontor und Fabrik arbeiten, denen der Sonntag
ein Festtag ist, auf den sie sich jedesmal von neuem sechs schwere
Tage lang freuen. Nnd alle ihre Frauen und Kinder.

Ein andres Bild: um die Mittagstunde in einer süddeutschen
Residenz. Aus den Läden und Handwerkstätten und Fabriken strömen
die Leute zu ihren Vorortwohnungen. Zwischen Gärten voll Rosen
und überhangendem wilden Wein wandern sie auf den Bürgersteigen
dahin. Oben in der Linde jubelt eine Amsel, ein Buchfink schmettert
vom Telegraphenpfahl. Tausende, die aus stickigen Räumen kommen,
atmen auf. Da, ein Signal: um die Ecke saust ein Automobil, drüben
ein zweites. Alles ist in Staub und Gestank gehüllt. Einige Men-
schen suchen sich in eine seitliche Parallelstraße zu retten. Aber auch
dort rasen Automobile. Die Kontorluft war balsamisch gegen den
schweren, heißen, zähen Straßenstaub, durch den die Menschen miß-
mutig heimwärts schleichen.

Auf einer köstlichen alten Allee in der weiteren Umgebung Dres-
dens zählte ich in einer halben Stunde nicht weniger als fünfzig
Automobile. Fußgängern ward dadurch das Betreten der Allee ge-
radezu eine Nnmöglichkeit. Niemanden erfreuen nunmehr die
mächtigen, lang schattenden Bäume. Auch die Autofahrer nicht, denn
wer mit Schnellzugsgeschwindigkeit zwischen den Bäumen dahinfährt,
der wertet sie nur als gefährliche tzindernisse, an denen der Chauffeur
scheitern kann, wenn sein Auge oder seine Hand unsicher ist.

Freilich, lächelt man, aber der Fortschritt, mein Lieber, der Fort-
schritt! Ieder Fortschritt bringt seine kleinen Nnbequemlichkeiten mit
sich, das muß man eben hinnehmen. Vor dieser Gedankenbilligkeit
kriecht fast unsre gesamte öffentliche Meinung ins Mauseloch. Also:
da alle Welt dem Fortschritt Palmen streut: das Automobil ist ein
bevorzugter Träger des Rückschritts.

3Z8 Kunstwart XXVI, 23
 
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