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Kunstwart und Kulturwart — 26,4.1913

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Heft 19 (1. Juliheft 1913)
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Göhler, Karl Albert: Vogelgesang
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Die europäische Gesellschaftsgrenze
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https://doi.org/10.11588/diglit.14284#0025

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bekunden. Hier sind> wie schwerlich sonstwo noch in einer deutschen
Landschaft, alle Bedingungen für ein reiches Vogelleben gegeben. Die
Vögel sind hier immer in Deckung und finden die üppigste Nahrung.
Da ist zunächst der große Strom, die Elbe, und das sich hier stark auf-
weitende Lal, wo auf dem fruchtbaren Schwemmland die Wiesen und
Fluren im Segen nur so überquellen. Dazu der größte Baumreichtum.
Die ganze Gegend bis auf die Gipfel der Berge ist Parklandschaft. Sogar
die Ackerfluren, die Roggen-, Weizen-, Kartoffel- und alle sonstigen
Felder sind dicht bepflanzt mit Obstbäumen, alle Böschungen und Raine
sind bewachsen und Hain schließt sich an Hain die Schluchten und
Halden hinauf, bis heran hinten an den Hochwald. Und nichts ist hier zu
gewahren von irgendwelcher genaueren Durchforstung, zum Segen der
Riststätten. Viel Unterholz gibt's, Haselbüsche zumal und alle erdenk-
lichen Stockausschläge, umsäumt von natürlichen Hecken aus Hainbuche,
Liguster, Kletterrose und Weißdorn und durchwachsen und umknäult von
wildem Hopfen, Waldrebe und Geißblatt. Bäche fehlen nicht, Tümpel
und wilde Wasserläufe, nach allen Richtungen hin, umsäumt mit Akan-
thus- und Lattichblättern in unbeschreiblicher Größe. Verläßt man den
Ort Salesl und wandert am Mühlbach hin und zur Dubitzer Kapelle
hinauf, so weiß man alsbald kaum noch, wo man die Ohren hinwenden
soll im Genuß der alleredelsten Vogellieder, die ununterbrochen erschallen,
in Massenchören. Und oben an der Kapelle, da saß ich ganz am frühen
Morgen und schaute und horchte hinunter in die paradiesische Landschaft.
Sie verdient die Bezeichnung „bömisches Paradies". An allen Ecken
unten schlugen die Rachtigallen. Verschiedene Kuckucke riefen immer zu-
gleich, spaßhafterweise, und Singdrosseln mit wunderbaren Louren, Pirole
mit Flötentönen, voll, weich und süß, wie halb Butter, halb Honig, und
zahlreiche graue Grasmücken gurgelten und orgelten und wetteiferten mit
den Schwarzblättchen, expressivo, eon kuoco, Lppa88ianato. Von jeder
Vogelart hört man dort die Gesänge gewissermaßen in feinster alter
Kultur, in klassischer Aberlieferung, denn das Land ist sicherlich immer
gleich schön und üppig gewesen und an guten Vorsängern hat's hier nie
gefehlt. Und wie sich mir da so ein Gedanke in den andern spann, da
sagte ich mir zuletzt: Man darf sich nicht wundern, daß man etwas
liederlich ist dort, wo die Ratur dem Menschen das Dasein so leicht
macht, und daß aber auch die Menschen hier musikalischer sind wie
anderswo und das Land Böhmen bekanntlich die ganze Welt mit Musi-
kanten versorgt. Sollte also nicht doch eine Art Wahlverwandtschaft
zwischen Musikanten und Singvögeln bestehen? Karl Söhle

Die europäische Gesellschaftsgrenze

^^aß man rnrtten in Europa noch gesellschaftliche Entdeckungen
lnachen kann, wird vielleicht manchen wundernehmen, nun
kommen aber Entdeckungen bisher unbekannter Erscheinungen
sehr oft gerade aus den besterforschten Teilen der Erde, denn es gelingt
gerade in diesen häufig, die Erscheinung zum ersten Male zu beobachten.

So ist es auch mit den Kulturgrenzen. Daß es solche gibt, wußte
man bisher nicht allgemein. Es dürfte wohl kaum bekannt sein, daß
eine Gesellschaft an die andre geradezu anstößt. Es ist neu, daß man

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