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Kunstwart und Kulturwart — 26,4.1913

DOI issue:
Heft 22 (2. Augustheft 1913)
DOI article:
Corbach, Otto: Schwalben vor einem neuen Sommer?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14284#0335

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Schwalben vor einem neuen Sommer?

^^.ine Zeit scheint gekonrmen, wo das Leben selbst wieder religiöse
^^*Werte schafft, statt nur alte zu zerstören. Auffallend ist das Lr-
^i^wachen eines Sinnes für religiöse Lriebkräfte in einer der modern-
sten Wissenschaften, der ökonomik. Sie war lange Zeit beherrscht von
der allgemeinen Loslösung des wirklichen Lebens von überlebten Moral-
lehren, die sich souverän über die wirtschaftlichen Bedürfnisse der breiten
Massen hinweggesetzt und die Forderung der Armen nach gerecht ent-
lohnter Arbeit nur mit einer Mahnung an die Reichen, Almosen zu
geben, beantwortet hatten. Erst eine rücksichtslose Entfesselung des Er-
werbslebens konnte die entsprechend breiteren Volksschichten, denen die
moderne Lechnik angenehme Lebensmöglichkeiten in Aussicht stellte, aus
der dumpfen Lethargie mittelalterlicher Hörigkeitsverhältnisse befreien und
zu großzügigen kapitalistischen Arbeitsweisen tauglich machen. Inzwi-
schen ist diese Leistung vollbracht worden. Die Okonomik hat dadurch Ge-
legenheit erhalten, moralfreies modernes Wirtschaftsleben als gegebene
Tatsächlichkeit nach allen Richtungen zu durchforschen. Ietzt beginnt sie,
sich davon angefremdet zu fühlen. Der Glaube an die Vortrefflichkeit
eines nur von wirtfchaftlichen Motiven geleiteten »economical man" ist
ins Wanken geraten. Auf einmal erscheint unsern reifsten national-
ökonomischen Köpfen auch der Kapitalismus in einem ganz neuen Lichte.
Hatte man früher das Wesen der kapitalistischen Epoche zu erschöpfen
geglaubt, indem man seine objektiven Voraussetzungen, die Maschine,
den Großbetrieb, die Lrennung von Arbeiter und Arbeitsmittel aufzählte
und als einzige psychologische Grundlage den Mehrwerthunger der Kapi-
talistenklasse in Betracht zog, so findet man jetzt auf einmal, daß auch
bestimmte allgemeine geistige Vewegungen bei der Entstehung des Kapita-
lismus mit am Werke waren. Max Weber entdeckte Zusammenhänge
zwischen dem Puritanismus und Kapitalismus. Das regte Werner Som-
bart dazu an, dem Einflusse der Religion auf das Wirtschaftsleben mehr
nachzuspüren, als er es bisher getan hatte, und dann über die Verwandt-
schaft des kapitalistischen Geistes mit dem Ideenkreise der jüdischen Reli-
gion sein heftig umstrittenes Buch über „die Iuden und das Wirtschafts-
leben" zu schreiben. Ganz unabhängig von diesen beiden war inzwischen
Theodor Hertzka von seiner ursprünglichen, vorwiegend materialistischen
Auffassung des Wirtschaftslebens ab- und einer psychologischen Ent-
stehungsgeschichte des Knechtssinnes auf die Spur gekommen, die zu
ganz neuartigen wissenschaftlichen Schlüssen zwang. Er hat das in einem
neuerdings bei Georg Reimer erschienenen Buche über „Das soziale
Problem" fesselnd dargestellt. Früher hatte er, wie viele andere, ge-
glaubt, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ver-
schwinden würde, „weil und sobald Aberfluß und Muße für alle möglich
geworden"; jetzt ist er sich darüber klar, daß Knechtschaft und Freiheit
„nicht bloß materielle, das ist wirtschaftliche, sondern ebenso auch geistige
Zustände des Menschen seien, daß sie Knechtssinn einerseits, Freiheitssinn
anderseits nicht bloß zu Begleiterscheinungen, sondern zu notwendigen
Voraussetzungen haben, und daß folglich, soll die soziale Evolution zu-
reichende Erklärung finden, die Untersuchung von den wirtschaftlichen
Vorgängen und Zusammenhängen auch auf geistige Prozesse ausgedehnt

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