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Kunstwart und Kulturwart — 26,4.1913

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Heft 20 (2. Juliheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14284#0177

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Vom tzeute fürs Morgen

Worte

orte verhalten sich zum bloßen
Gedanken wie die Handlung
zum bloßen Vorsatz. Sie sind stoff--
licher, sie belasten, sie fördern mehr
als der Gedanke, sie haben in sich
etwas handlungsartiges. Ihr stoff--
liches Wesen spürt man sehr deut--
lich beim A.ussprechen eines aus
tieferer Geistesregion stammenden
Gedankens: dieser erscheint jetzt wie
mit fremder Materie beladen und
sieht uns aus der Maske des Wor--
tes verändert an.

Die Worte sind stofflicher Na--
tur. Nicht bloß, weil sie an Schrift
oder Lon gebunden sind, sondern
hauptsächlich, weil unsere Sprache
ganz aus bildnerischem Geiste
geschaffen ist. Die Sprache hat den
künstlerischen korror vaeui, sie steckt
bis in die letzte Partikel hinein (ja
gerade dort) voll von Bild und
sinnlicher Anschauung, so daß jedes
Wort zum mindesten ein selbständi--
ges Bild für sich bedeutet. Ge-
nau genommen gibt es daher keine
Shnonhme, gibt es nicht zwei
Worte, die ganz dasselbe bedeuten.
Die Verschiedenheit des Bildes
besteht selbst zwischen sogenannten
Shnonhmen fort, und verschiedene
Bilder derselben Sache sind notwen-
dig verschiedene Ausdeutungen, ver-
schiedene „Mythen" desselben Vor-
ganges, tröstlichere oder grausamere,
schreckendere oder lieblichere. Ob ich
das Sterben eines Menschen einen
Tod oder einen Heimgang nenne —
es gäbe wohl noch schroffere Ge-
gensätze — das macht einen wesent-
lichen Anterschied.

Nein, es gibt keine Synonyme.
Wer ein Wort gebraucht, wählt
nicht nur einen neutralen Namen
für eine Sache, er wählt und aner-

kennt auch die Färbung des My-
thus, des Bildes, die das Wort
enthält. Worte sind niemals bloße
Etiketten oder ziffernmäßige Benen-
nungen, sie sind Bewertungen» sie
sind Arteile und Seelenzustände;
daher Goethe: Worte sind der Seele
Bild.

Man spricht so oft verächtlich
von einem Streit um Worte. Aber
fast immer liegt in solchen Fällen
ein Streit um zwei verschiedene Bil-
der oder Bewertungen vor, also um
Wesentliches und Entscheidendes;
mindestens geht es bei solchen Ge-
legenheiten um zwei verschiedene
„Subjektivitäten", häufig um zwei
verschiedene Weltanschauungen.

Worte stehen, als Bilder und
Mythen, zu dem Leben in uns in
einer sehr nahen und innigen Be-
ziehung. Zu dem Leben, das heißt:
zu dem Willen in uns. Denn
Worte sind, als Bilder, Zeugnisse
eines bestimmten affektmäßigen Ver-
haltens zu einer Sache und wir-
ken daher suggestiv. Das ist die
tiefe Erkenntnis des Euphemismus
der Alten: er wählte das leben-
fördernde, dem Willen angenehme
Bild an Stelle des lebenmindern-
den und den Willen drückenden.
Der Anterschied zwischen den Wor-
ten Sterben und Heimgehen liegt
in dem Verhalten des Fch zu der
Tatsache eines Lodes. Wenn
Goethe sagte: „Mein Sohn August
ist außengeblieben", so wollte er
damit keineswegs bloß sagen: Mein
Sohn August ist gestorben, son-
dern er wollte sagen: „Mein Sohn
August ist tot, aber da das Hoff-
nungslose eines endgültigen Ab-
schiedes die Freiheit meines Geistes
drückt, suche ich durch die Vorstel-
lung eines fast freiwillig gewähl-

(SH Kunstwart XXVI» 20
 
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