And doch — die gcrnze Snchlage deutet hier auf mehr, auf tiefere
letzte Gründe.
Meine Behauptung lautet: Die Krisis ist nicht allein durch ein
paar zufällig zusammengekommene Todessälle, noch auch allein durch
die ungünstige Stellung der Privatdozenten begründbar, sie geht
zurück auf die Entwicklung, welche gerade unter Erich Schmidts und
seiner Gesinnunggenossen Leitung die Literaturwissenschaft selber ge-
nommen hat. Mt andern Worten: nicht eine Professoren-
krise, sondern eine Krise der Literaturwissenschast ist
ausgebrochen. Man erntet nun, was zwanzig Iahre bisheriger Lite--
raturwissenschaft — nicht gesät haben. Wer bei diesen Worten stntzt,
den bitte ich, einmal ein Buch aus früheren Zeiten dieser Wissen-
schaft aufzuschlagen, eins von Vischer, Hettner, Hehn, Haym, Herm.
Grimm oder zum Vergleich eins von Nietzsche, Gomperz, Rohde oder
Arrey von Dommer. Was da als unmittelbarer Eindruck heraus-
leuchtet, ist, mit Schlagworten angedeutet, etwa dieses: der Mut zur
eignen Persönlichkeit, zu Äußerungen, die nicht allein „aus den
Quellen belegbar", sondern zu einem wichtigen Teil von der Lebens--
richtung und Lebensanschauung der Verfasser bedingt sind. Dieses
sich äußernde Leben nun, selbst geweckt und befruchtet vom Leben
der dichterischen Persönlichkeiten und der wertvollen Gedankenmassen,
die man behorchte, darstellte, durchleuchtete, es erweckt wiederum le--
bendige Teilnahme im Leser, wie es einst die Hörer jener Männer
an ihrem eigenen Innersten anpackte. Nunmehr betrachte man ein
paar Dutzend der literaturwissenschaftlichen Doktorarbeiten unserer
Tage. Ihre Fragestellungen, ihr Stil, ihre Durchführung und Stoffbe--
schaffung zu mehr als neunzig vom Hundert ist nur möglich, wenn der
Verfasser ein lebendiges Verhältnis zu seinem Gegenstande nicht hat
oder darauf verzichtet, es mitsprechen zu lassen, nur möglich, wenn
er sich auf Statistik, Buchstabenglauben, Wortglauben, Papierglauben,
auf einen guten Zettelkasten und ein tüchtiges Maß von Sitzfleiß
verläßt. „Aber man darf nicht Doktorarbeiten mit Werken von füh--
renden Großen vergleichen." Wenn es den Geist einer Wissenschaft-
pflege zu vergleichen gilt, doch wohl, und von den Hauptwerken der
heutigen Koryphäen selbst reden wir noch. Damals war Kunstwissen--
schaft und Seelenkenntnis — wenn auch ohne die heute erarbeiteten
wissenschaftlichen Unterlagen dazu —, damals war Eindringen in
die individuellen und allgemeinen Bedingungen des Kunstwerks und
Teilnahme an seinem ferneren Lebenslauf, und kluge Auslese. Heute
gewahren wir lebenabgewandte, scheinwissenschaftliche Text- und For--
menbehandlung, ein innerlich unorientiertes Abtasten, Vergleichen,
Hin-- und Herwenden der Außerlichkeiten und den Wahn der „Voll--
ständigkeit". Vom unästhetischen Druckbild unserer meisten Klassiker--
Ausgaben, von den irreführenden, überladnen „Glossaren" und „Ap--
paraten" über die kunst- und seelenwissenschaftlich unfruchtbare Form
der Massenherausgabe von Nebenwerken, Briefen, Tagebüchern, Ge--
sprächen, ob sie wichtig oder gleichgültig sind, bis zum Elend unserer,
auf alte Schlagworte, Lsthetische Hilflosigkeit und psychologische Nn--
sicherheit gestellten Literaturgeschichten — es starren da Hunderte von
Zeugnissen, wieweit das mißverstandene Fdeal der „Wissenschaftlich--
Kunstwart XXVI, 2s
letzte Gründe.
Meine Behauptung lautet: Die Krisis ist nicht allein durch ein
paar zufällig zusammengekommene Todessälle, noch auch allein durch
die ungünstige Stellung der Privatdozenten begründbar, sie geht
zurück auf die Entwicklung, welche gerade unter Erich Schmidts und
seiner Gesinnunggenossen Leitung die Literaturwissenschaft selber ge-
nommen hat. Mt andern Worten: nicht eine Professoren-
krise, sondern eine Krise der Literaturwissenschast ist
ausgebrochen. Man erntet nun, was zwanzig Iahre bisheriger Lite--
raturwissenschaft — nicht gesät haben. Wer bei diesen Worten stntzt,
den bitte ich, einmal ein Buch aus früheren Zeiten dieser Wissen-
schaft aufzuschlagen, eins von Vischer, Hettner, Hehn, Haym, Herm.
Grimm oder zum Vergleich eins von Nietzsche, Gomperz, Rohde oder
Arrey von Dommer. Was da als unmittelbarer Eindruck heraus-
leuchtet, ist, mit Schlagworten angedeutet, etwa dieses: der Mut zur
eignen Persönlichkeit, zu Äußerungen, die nicht allein „aus den
Quellen belegbar", sondern zu einem wichtigen Teil von der Lebens--
richtung und Lebensanschauung der Verfasser bedingt sind. Dieses
sich äußernde Leben nun, selbst geweckt und befruchtet vom Leben
der dichterischen Persönlichkeiten und der wertvollen Gedankenmassen,
die man behorchte, darstellte, durchleuchtete, es erweckt wiederum le--
bendige Teilnahme im Leser, wie es einst die Hörer jener Männer
an ihrem eigenen Innersten anpackte. Nunmehr betrachte man ein
paar Dutzend der literaturwissenschaftlichen Doktorarbeiten unserer
Tage. Ihre Fragestellungen, ihr Stil, ihre Durchführung und Stoffbe--
schaffung zu mehr als neunzig vom Hundert ist nur möglich, wenn der
Verfasser ein lebendiges Verhältnis zu seinem Gegenstande nicht hat
oder darauf verzichtet, es mitsprechen zu lassen, nur möglich, wenn
er sich auf Statistik, Buchstabenglauben, Wortglauben, Papierglauben,
auf einen guten Zettelkasten und ein tüchtiges Maß von Sitzfleiß
verläßt. „Aber man darf nicht Doktorarbeiten mit Werken von füh--
renden Großen vergleichen." Wenn es den Geist einer Wissenschaft-
pflege zu vergleichen gilt, doch wohl, und von den Hauptwerken der
heutigen Koryphäen selbst reden wir noch. Damals war Kunstwissen--
schaft und Seelenkenntnis — wenn auch ohne die heute erarbeiteten
wissenschaftlichen Unterlagen dazu —, damals war Eindringen in
die individuellen und allgemeinen Bedingungen des Kunstwerks und
Teilnahme an seinem ferneren Lebenslauf, und kluge Auslese. Heute
gewahren wir lebenabgewandte, scheinwissenschaftliche Text- und For--
menbehandlung, ein innerlich unorientiertes Abtasten, Vergleichen,
Hin-- und Herwenden der Außerlichkeiten und den Wahn der „Voll--
ständigkeit". Vom unästhetischen Druckbild unserer meisten Klassiker--
Ausgaben, von den irreführenden, überladnen „Glossaren" und „Ap--
paraten" über die kunst- und seelenwissenschaftlich unfruchtbare Form
der Massenherausgabe von Nebenwerken, Briefen, Tagebüchern, Ge--
sprächen, ob sie wichtig oder gleichgültig sind, bis zum Elend unserer,
auf alte Schlagworte, Lsthetische Hilflosigkeit und psychologische Nn--
sicherheit gestellten Literaturgeschichten — es starren da Hunderte von
Zeugnissen, wieweit das mißverstandene Fdeal der „Wissenschaftlich--
Kunstwart XXVI, 2s