wirkungen einmal gehört und gesehen haben, der ties unter der Ebene
geistig erzogener Menschen allenthalben durch die Massen gelenkt wird.
Aber auch auf dieser Ebene gelingt nur selten und hie und da
ein dichterisches Werk. Die meisten Poeten, und gewiß Viele unserer
Ernstesten, schrecken wohl vor der Riesenaufgabe zurück. Der volle
Stoff ist zu groß als daß er in wirklichkeittreuer Erzählung
kurzen Umfangs erschöpft werden könnte. Wer ihm nahekommt, sieht
sich von tausend Fragen umdrängt: soll man alle wichtigen geschicht-
lichen Führer berücksichtigen, die Kriegs- und Friedenshelden aller
Nationen? oder nur ein paar charakteristische? soll man die wich-
tigsten Ereignisse schildern oder nur ihre Wirkung? soll man die
deutschen Gaue durchgehen, um die vielfachen, grundverschiedenen
Erlebnisse des Volkes darzustellen? die Stimmung in mancherlei
Kreisen? die Schlachten? soll man mehr die inneren politischen Wand-
lungen, die Verwaltung- und Verfassungfragen berücksichtigen oder
die endlichen Wirkungen aller solcher Vorarbeit? mehr das geistige
Leben der oberen Fünfzigtausend in den SLädten oder das Leben
des Volkes, des Adels auf dem Lande?
Zerrissen in lauter unorganische Teile, so scheint auch dem Kundi-
gen das Leben vor hundert Iahren, bewegt von zahllosen Strömungen
des Geistes und Gemüts, die sich widersprechen und kreuzen, erschüttert
in furchtbaren, langwierigen, endlosen Kämpfen, deutbar in jedem
Sinne, ein Schauspiel, das zu tiefstem Ernst und fast zu schweigendem
Verzicht herausfordert. Ein Leo Tolstoi konnte den Mut haben, mit
junger Kraft Derartiges anzugreifen, verzichtete dabei auf alles, was
nicht vom russischen Gesichtwinkel her faßbar war, schuf sich eine
großartige aber unhaltbar einseitige geschichtphilosophische Hypothese,
nach deren Nichtlinien er alles verlaufen ließ — und brauchte doch
zu seinem Ausschnittwerk vierBände. Es lohnt sich, solche Tat-
sachen zu bedenken, um zu einem Maßstab zu kommen, welche Schwie-
rigkeiten sich vor einem ernsthaften Schriftsteller auftürmen, der diese
Zeit gestalten will. And, um noch einmal Gerhart Hauptmann zu
erwähnen, — dichterisch und technisch bezeugt die Anlage jenes Fest-
spiels zweifellos eine starke geistige Leistung. Man empfängt den
Eindruck, den wesentlichen, den tieferen Kräften jener Zeit inner-
lich gegenübergestellt zu sein, den gröbsten und den zarteren. Rnd
die anschauliche Zusammenfassung so auseinanderstrebender, wirrer
Kräfte in kurze, gedrängte Szenen gehört in jedem Fall zu den
starken Intuitionen der Dichtung.
Dem Prosaiker ist diese Möglichkeit kaum gegeben; tiefer muß
er in den rein menschlichen Gestalten- und Erlebnisgehalt der alten
Zeit greifen, weitere Stoffmassen durch jenen hindurch lebendig machen.
Ruhiger ist seine Sprache, die uns nicht Kräfte allein und Gedanken,
sondern den Gang der Tage, das Wohnen und Werkeln, das Denken
und Trachten der Leute von einst erstehen läßt.
Anderes als das eben Geforderte wollte Max Ludwig mit
einem umfänglichen Roman „Der Kaiser^ (München, Alb. Langen).
Das Wesen Napoleons zu ergründen spiegelt er seine innere Ent-
wicklung vom Konvent bis zur Leipziger Schlacht; er erfindet einen
Iugendfreund Napoleons, der den Korsen von Anfang an bis zuletzt
l- Iuliheft . 33^
geistig erzogener Menschen allenthalben durch die Massen gelenkt wird.
Aber auch auf dieser Ebene gelingt nur selten und hie und da
ein dichterisches Werk. Die meisten Poeten, und gewiß Viele unserer
Ernstesten, schrecken wohl vor der Riesenaufgabe zurück. Der volle
Stoff ist zu groß als daß er in wirklichkeittreuer Erzählung
kurzen Umfangs erschöpft werden könnte. Wer ihm nahekommt, sieht
sich von tausend Fragen umdrängt: soll man alle wichtigen geschicht-
lichen Führer berücksichtigen, die Kriegs- und Friedenshelden aller
Nationen? oder nur ein paar charakteristische? soll man die wich-
tigsten Ereignisse schildern oder nur ihre Wirkung? soll man die
deutschen Gaue durchgehen, um die vielfachen, grundverschiedenen
Erlebnisse des Volkes darzustellen? die Stimmung in mancherlei
Kreisen? die Schlachten? soll man mehr die inneren politischen Wand-
lungen, die Verwaltung- und Verfassungfragen berücksichtigen oder
die endlichen Wirkungen aller solcher Vorarbeit? mehr das geistige
Leben der oberen Fünfzigtausend in den SLädten oder das Leben
des Volkes, des Adels auf dem Lande?
Zerrissen in lauter unorganische Teile, so scheint auch dem Kundi-
gen das Leben vor hundert Iahren, bewegt von zahllosen Strömungen
des Geistes und Gemüts, die sich widersprechen und kreuzen, erschüttert
in furchtbaren, langwierigen, endlosen Kämpfen, deutbar in jedem
Sinne, ein Schauspiel, das zu tiefstem Ernst und fast zu schweigendem
Verzicht herausfordert. Ein Leo Tolstoi konnte den Mut haben, mit
junger Kraft Derartiges anzugreifen, verzichtete dabei auf alles, was
nicht vom russischen Gesichtwinkel her faßbar war, schuf sich eine
großartige aber unhaltbar einseitige geschichtphilosophische Hypothese,
nach deren Nichtlinien er alles verlaufen ließ — und brauchte doch
zu seinem Ausschnittwerk vierBände. Es lohnt sich, solche Tat-
sachen zu bedenken, um zu einem Maßstab zu kommen, welche Schwie-
rigkeiten sich vor einem ernsthaften Schriftsteller auftürmen, der diese
Zeit gestalten will. And, um noch einmal Gerhart Hauptmann zu
erwähnen, — dichterisch und technisch bezeugt die Anlage jenes Fest-
spiels zweifellos eine starke geistige Leistung. Man empfängt den
Eindruck, den wesentlichen, den tieferen Kräften jener Zeit inner-
lich gegenübergestellt zu sein, den gröbsten und den zarteren. Rnd
die anschauliche Zusammenfassung so auseinanderstrebender, wirrer
Kräfte in kurze, gedrängte Szenen gehört in jedem Fall zu den
starken Intuitionen der Dichtung.
Dem Prosaiker ist diese Möglichkeit kaum gegeben; tiefer muß
er in den rein menschlichen Gestalten- und Erlebnisgehalt der alten
Zeit greifen, weitere Stoffmassen durch jenen hindurch lebendig machen.
Ruhiger ist seine Sprache, die uns nicht Kräfte allein und Gedanken,
sondern den Gang der Tage, das Wohnen und Werkeln, das Denken
und Trachten der Leute von einst erstehen läßt.
Anderes als das eben Geforderte wollte Max Ludwig mit
einem umfänglichen Roman „Der Kaiser^ (München, Alb. Langen).
Das Wesen Napoleons zu ergründen spiegelt er seine innere Ent-
wicklung vom Konvent bis zur Leipziger Schlacht; er erfindet einen
Iugendfreund Napoleons, der den Korsen von Anfang an bis zuletzt
l- Iuliheft . 33^