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Kunstwart und Kulturwart — 26,4.1913

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Heft 20 (2. Juliheft 1913)
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Gürtler, Franz: Prüfungen für Musikkritiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.14284#0143

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Iede Art öffentlicher Kritik hat eine fast unübersehbare Fülle
historischer, psychologischer, sozialer und persönlicher Tatbestände und
Erfahrungen zur Voraussetzung, und die Musikkritik überbietet an
Schwierigkeit dieser Verhältnisse wohl fast alle andern. Nur einige
der Besonderheiten dieses Faches seien hier hervorgehoben. Ein Kritiker
der bildenden Kunst ist in der Zeit, wann er seinen Gegenstand be-
trachten will, nicht annähernd so beschränkt, wie ein Musiker. Iener
kann in die Ausstellung gehen, wann er will, früh, mittags, nach-
mittags, heute, morgen, in Wochen. Der Musiker ist gebunden an
den Abend, den einen Abend der Aufführung. Das Bildwerk steht
fertig, rasch vergleichbar dem benachbarten, vor den Augen des Knnst-
richters; das Tonwerk entschwindet, kaum erfaßt, dem vielleicht nicht
starken Gedächtnis des Hörers, das unmittelbar darnach mit fünf,
zehn andern Werken belastet wird, ohne daß man in Ruhe zum ersten
zurückkehren kann. Das Bildwerk ruht in sich, nur ihm selbst kann
die Aufmerksamkeit gelten; im Anhören eines Tonwerkes drängt sich
oft die Frage auf: hat man es auch in seiner eigentlichen, vom Künst-
ler gewollten Form gehört, war die Ausführung, das schlechte Spiel
des Cellisten, die kokette Weise des Stabführers nicht vielleicht an
dem ungünstigen Eindruck schuld? oder hat nicht vielleicht — ein
auf der Bühne häufiger Fall — die vortrefflich lebendige Ausfüh-
rung hier einem minderwertigen Werk ein vorübergehendes Schein-
dasein erwirkt?

And wieviel mannigfaltiger sind nicht die Aufgaben des Musik-
kritikers als die andrer Kritiker! Der Literat hat Romane, Ge-
dichte, Theaterstücke und manchmal noch das Theater als solches zu
beurteilen, der Kunstkritiker Bilder, Plastik, Ausstellungorganisationen.
Der Musiker in weit höherem Maß alte neben der neuen Kunst,
Kammermusik, Lieder, Klavierspiel, Kirchenmusik, Chorgesang, Instru-
mentation, Orchesterdarbietungen und die Instrumentalisten darin,
Stimmbildung, Bücher über Musik, Theaterleistungen, Programme,
Dirigenten, Konservatorien, Musiktheorien, Orgelspieler, Möglich-
keiten der Entwicklung, soziale Tatbestände — hunderterlei durch-
einander, nacheinander in raschem Wechsel nnd vft auf eine notwendig
kurze, nur teilweise erschöpfende Prüfung hin. Mit alledem ist ein
fragwürdiger Punkt noch gar nicht erwähnt, der oft und hartnäckig
in den Vordergrund geschoben wird: daß angeblich die ästhetischen
Maßstäbe für musikalische Kunstwerke überhaupt ganz allein aus
individuellen Anlagen stammen, keinerlei objektiven Wert haben,
mindestens aber bedeutend mehr schwanken als die für andre Kunst-
werke. Wer sich so die zahllosen Schwierigkeiten der Musikkritik
vergegenwärtigt, muß sich eigentlich wundern, daß es Männer gibt,
die den Mut noch ausbringen, sie auszuüben, und mindestens mnß
er wohl gegen Mißgriffe der Tagespresse milde werden.

Zuweilen entsteht nun gegen diese Mißgriffe eine etwas ausge-
dehntere Mißstimmung, und so tauchen ab und an immer wieder
Vorschläge auf, den „Herrn Kritikern^ das tzandwerk zu erschweren
oder ihnen wenigstens aufmerksamer auf die Finger zu sehen. Neuer-
dings hörte man von einem Versuch, in Holland eine Prüfung für
Musikkritiker einzurichten, und ein angesehener Musikschriftsteller,

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