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Kunstwart und Kulturwart — 26,4.1913

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1923)
DOI Artikel:
Walzel, Otto: Ricarda Huchs "Großer Krieg"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14284#0413

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Kunst die Ansprüche einer Wirklichkeit versturnmen, die wohl außer--
ordentliche Persönlichkeiten, aber auch Entsesselung der scheußlichsten Ge-
lüste und Zernichtung der letzten Reste menschenwürdigen Daseins in sich
barg. Die beiden Dichterinnen von heute, Enrika von Handel-Mazzetti
und Ricarda Huch, sind zwei grundverschiedene Dichternaturen, getrennt
durch Abstammung, Bildungswege, künstlerisches Temperament, Weltan-
schauung, Ausdrucksform, inneres Verhältnis zu dem Gegenstand ihrer
Dichtungen, endlich durch einen unvereinbaren Gegensatz in der Selbst-
bestimmung, mit der ein Poet seinem Schaffen die Wege weist und
seine Poesie kommandiert. Nicht nach ihrer gesamten Leistung sei die
jüngere Ssterreicherin mit der Norddeutschen hier verglichen. Sie müßte
sonst, da sie einen einzelnen Lon nachgerade etwas lange anhält, neben
dem Formenreichtum Ricarda Huchs ohne weiteres zurückstehen. Nur
die Gestalt, in die beide Frauen das s7. Iahrhundert bringen, sei er-
wogen. Der Sturm innerer Erregung, der sich in den geschichtlichen
Romanen Lnrikas austobt, bannt den Leser stark genug, um künstlerische
Freude auch dem zu gewähren, der die meisterhafte innere Ruhe und
Sicherheit Ricardas bestaunt. Darum sei nicht die eine gegen die andre
ausgespielt, nur zu besserem Verständnis beider eine mit der andern
zusammengestellt. Enrikas innerer leidenschaftlicher Anteil macht sie
zum Anwalt fast aller Menschen, die sie schafft. Aus starkem Sub-
jektivismus wird sie in der Gesamtwirkung beinahe objektiv. Denn
wenn sie die Händel der Katholiken und der Protestanten oder Refor-
mierten erzählt, nimmt sie, die katholische Dichterin, nur im Augenblick
Partei und dann immer für den Menschen, den sie gerade zu gestalten
hat. Echte Schöpferfreude läßt sie das Geschick eines jeden wie ihr
eigenes Schicksal erleben; darum wird ihr jetzt eine katholische Dulderin
und wenige Seiten später deren Gegner und Peiniger zu einem Gefäß,
in das sie ihr eigenes Gefühl hineingießt, zu einem Menschen, dessen
Erleben sie bis ins Kleinste miterlebt. Ganz ebenso hält sie es, wenn
sie die Rollen der Glaubensbekenntnisse vertauscht. Fast immer hat
sie von einem Peiniger und einer Gepeinigten zu erzählen, dann aber
von dem Amschlag, durch den Dulden zum Sieg, Äuälen zur Bestrafung
gelangt, durch den indes zugleich auch eine innere Reinigung und seelische
Vertiefung in dem bestraften Quäler sich auswirkt. Der machtvolle
innere Anteil ruht überdies auf der ganzen Voraussetzung der Romane
Enrikas: sie schränkt sich mit Absicht auf das enge, ihr heimatlich nahe
und liebe Gebiet ein, das links und rechts der Enns gegen Linz und
gegen Wien sich ausbreitet. Dieses Land und seine Menschen kennt
sie nach Gesittung, Gesinnung, Wortbrauch und Gebärde; und wie sie
die Geschichte dieses Landstrichs aus alten Arkunden schöpft, so erhebt
sie als Künstlerin den Anspruch, in den ihr wohlbekannten Menschen,
die heute den Landstrich bewohnen, die Menschen von einst zu entdecken,
in ihnen wesentliche Züge vorzufinden, die durch Iahrhunderte unver-
ändert geblieben sind. Der Bauer des Ennstals spricht und fühlt in
ihren Romanen ganz so, wie er heute spricht und fühlt. Die Seele
des Städters von einst sucht sie aus der Seele des Gegenwartsmenschen
der Landschaft herauszulesen, so wie der Philologe die verblichenen
Schriftzüge alter Pergamente erkennen möchte, die von buntgefärbten
Buchstaben aus späterer Zeit überdeckt sind. Eine starke Liebe für diese

^ s. Septemberheft 323
 
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