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Eickels, Klaus; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Vom inszenierten Konsens zum systematisierten Konflikt: die englisch-französischen Beziehungen und ihre Wahrnehmung an der Wende vom Hoch- zum Spätmittelalter — Mittelalter-Forschungen, Band 10: Stuttgart, 2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.34724#0300

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296

Kapitel V

Forschung legt es jedoch nahe, das Wort »Ritual« primär für solche formali-
sierten sozialen Verhaltensweisen zu verwenden, die einen eigenen, von der
Sprache der Worte unabhängigen Code bilden und daher uneindeutig blei-
ben, wenn ihre Bedeutung mit Worten umschrieben wird.
In diesem Sinne führte die Ausbreitung der Schriftlichkeit und des
Rechtsdenkens am Ende des Hochmittelalters zu einer Desintegration der
Sprache der Rituale. Erst jetzt läßt sich sinnvoll differenzieren zwischen »ce-
remonies ä valeur simplement demonstrative et illustrative« und »rituels ä
valeur performative«, denen als statusändernden »gestes qui obligent« her-
ausgehobene Bedeutung zukommt \ Erst jetzt aber ergab sich auch die Not-
wendigkeit zu solcher Unterscheidung: In der an oraler Kommunikation ori-
entierten Herrschaftspraxis des Hochmittelalters bedurften Herrschaftsan-
sprüche der ständigen Aktualisierung. Jede Demonstration von Herrschaft
implizierte zugleich ihre Bestätigung, der Verzicht auf Wiederholung solcher
Demonstration dagegen ihre Erosion. Die illustrative und die performative
Bedeutung von Gesten flössen so ineinander.
Erst das neue Rechtsdenken, das die Möglichkeiten des Archivs als insti-
tutionelles Gedächtnis einbezog, erlaubte es, auch lange zurückliegende und
nie verwirklichte Verpflichtungen zur Grundlage rechtlicher Forderungen zu
machen. Die konstitutive erste Krönung eines Herrschers, die ihn zum König
machte, erhielt nun eine andere Qualität als spätere zeremonielle Befesti-
gungskrönungen, die Wahl eines Königs wurde nun unterschieden von der
den Wahlakt nur anerkennenden späteren Huldigung zunächst nicht Betei-
ligter. Diese Differenzierung wirkte zurück auf das Verständnis des Iiomayz-
Mm: Da es nun - unabhängig von den äußeren Umständen - als performative,
statusändernde Handlung verstanden wurde, mußte sorgfältig darauf ge-
achtet (und aufgezeichnet) werden, daß es bei Herrenfall und Mannfall er-
neuert wurde, auch wenn kein Konflikt vorlag.
Vergleicht man die Rituale des Hochmittelalters mit den rechtssymboli-
schen Handlungen und den zeremoniellen Gesten, die seit der Wende zum
Spätmittelalter aus ihnen erwuchsen, könnte man auf Geoffrey Koziols Frage
»How does a ritual mean?«^ antworten: Uneingeschränkt verbindlich (im
Gegensatz zum Zeremoniell), aber mehrdeutig (im Gegensatz zu einer rechts-
symbolischen Handlung).

24 Moeglins Kritik an Althoffs Ansatz läßt diesen Wandel außer acht; MOEGLIN 1998, S. 248.
25 KoziOL 1992, S. 289.
 
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