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Nolte, Cordula; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Familie, Hof und Herrschaft: das verwandtschaftliche Beziehungs- und Kommunikationsnetz der Reichsfürsten am Beispiel der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach (1440 - 1530) — Mittelalter-Forschungen, Band 11: Ostfildern, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.34725#0071

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Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach

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de können dazu verleiten, auf emotionale Defizite oder Überschüsse im Ver-
gleich zu heutigen Standards zu schließen."" Ein besonderes Problem stellt
dabei die ausschließlich schriftliche Überlieferung aller emotionalen Äuße-
rungen dar - auch jener aus mündlichen und nonverbalen Kommunikations-
situationen. Angesichts dieser Vermitteltheit ergeben sich Fragen nach Spon-
taneität, Mitteilbarkeit, Wortschatz, sprachlicher Umsetzung (Wortschatz und
Semantik) und Stilisierung, die in den Kapiteln über mündliche und schriftli-
che Kommunikation noch erörtert werden. Hier mag einstweilen der allge-
meine Hinweis genügen, daß es wohl einen wesentlichen Unterschied macht,
ob wir es mit intentionalen Mitteilungen über eigene oder fremde Emotionen
zu tun haben oder mit eher nebenbei unbeabsichtigt einfließenden Informa-
tionen über Verhaltens- und Ausdrucks weisen aus dem nichtschriftlichen
bzw. nonverbalen Bereich: Erstere spiegeln in hohem Maß Haltungen, wäh-
rend letztere vermutlich weniger stark »emotionology«-gefiltert sind.

4.2. »The family as process«: die Dynamik des Lebens-,
Familien- und Haushaltszyklus
Unter dem Einfluß von Soziologie und Kulturanthropologie vollzog sich in
den 1970er Jahren in der historischen Familienforschung ein Perspektiven-
wechsel, bei dem eine »dynamische Betrachtungsweise« (Hareven) der Fami-
lie die damals vorherrschende Konzentration auf die Typologie von Haus-
halts- und Familienformen ablöste." ' Aus dieser neueren Sicht erscheint die
Familie als ein sich ständig veränderndes soziales Gebilde, dessen Dynamik
von der Interdependenz der Lebensläufe seiner Mitglieder bestimmt wird.
Der Ausgangspunkt sind dabei die Erfahrungen, die Individuen im Lauf ihres
Lebens machen: In den einzelnen Phasen des Familienzyklus und des eigenen
Lebenszyklus durchlaufen sie verschiedene Muster von Haushalts- und Fami-
lienorganisation, wechselnde Personen- und Beziehungskonfigurationen, er-
leben Rollenwechsel und Statusänderungen bei sich und anderen. Die Unter-
suchung der Lebensläufe in ihrer Verflechtung verbindet sich diesem For-

160 Vgl. oben in diesem Kapitel zu Zweifeln an der Existenz von emotionalen Bindungen in der
vormodernen Adelsfamilie. HUIZINGA, Herbst, Kapitel »Die Spannung des Lebens«, S. 1-35,
zur übergroßen Leidenschaftlichkeit, »der zügellosen Extravaganz und Entflammbarkeit des
mittelalterlichen Gemütes«. Vgl. Elias' These der allmählichen Entwicklung von Affektkon-
trollen und Selbstzwang, Prozeß 2, S. 323ff.
161 Vgl. Harevens Aufsatz mit dem programmatischen Titel »The family as process«. Zur For-
schungsgeschichte, zum Haushalts- und Familienzykluskonzept und zum Lebenslaufansatz:
DIES., Familienzeit, S. 27ff. DIES., Geschichte. DIES., Schluß. FREITAG, Haushalt. Die folgenden
Ausführungen basieren auf diesen Arbeiten. Vgl. auch den Forschungsüberblick bei SCHEL-
LER, Familienzyklus. Gabriela SIGNORI, Geschichte/n, hat am Beispiel einer Basler Straße im
15. Jahrhundert die lebenszyklische Dynamik städtischer Haushalts- und Familienformen
untersucht (dort auch umfangreiche weitere Literatur). Vgl. auch NOLTE, Weib, S. 18ff. Vgl.
zu dem an Prozessen orientierten »network thinking« in der Anthropologie WOLFE, Rise,
S. 56. Zu Elias' Kritik am »Zustandsdenken« und zur Auffassung von Figurationen als Pro-
zessen ESSER, Figurationssoziologie, S. 674ff.
 
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