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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Seydlitz, Reinhard von: Nietzsche und die bildende Kunst, 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0099

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Objektivation der platonischen „Idee“, ist im
strengsten Sinne eben erst dann ein Kunstwerk,
wenn es vollendet ist, d. h. der von Künstler und
Publikum einverständlich gewollte „Betrug“ (näm-
lich als sei dies Dargestellte wahrhaft ein Stück
Welt) überhaupt erst möglich geworden ist Hier
ist ganz besonders meines Erachtens ein Fehler
in der Auffassung Nietzsches von Kunst, Künstler
und Publikum: bei aller Vorführung eines Kunst-
werks irgend einer Art ist stillschweigend allerseits
ein Vertrag zugrunde gelegt, der dem Künstler das
Recht gibt, Leben und Welt vorzutäuschen, dem
Publikum aber die Pflicht auferlegt, die Täuschung
willig hinzunehmen: volenti non fit injuria; hier
sogar: volenti fit beneficium, — denn beide, Künstler
wie Publikum, finden ihre Rechnung dabei. Es
wäre also ein müssiges Bemühen, „die Fehlschlüsse
und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen,
vermöge deren er dem Künstler ins Netz läuft“
(a. a. 0. S. 157, 158). Mundus vult decipi. Um
dies „vult“ zu erklären, braucht es kaum der „Nach-
wirkung einer uralten mythologischen Empfindung“;
vielmehr besteht der Reiz aller Kunst auf einem
ähnlichen Prinzip wie der Genuss des Lesens: man
spannt einmal aus, um sich willenlos lenken zu
lassen; ein physisches Korrelat hierzu ist die
Wirkung der Erwärmungsmittel, die dem Körper
zeitweis eigne Heizthätigkeit ersparen.
Allerdings ist unter dieser Lenkung nicht immer
eine Lenkung ins traumhaft-unwahre, ins spielig-
kindliche zu verstehen. Wahrhaft grosse Kunst
kennt als Endzweck nicht, wie Nietzsche will, den:
die Menschheit zu verkindlichen. Offenbar hat
Nietzsche bei diesen Worten an die Madonnen der
Alten oder an Haydns Schöpfung gedacht. Aber
wir fragen mit Recht: ist Beethovens Neunte, —
oder etwa die Marseillaise, — oder gar eine Statue
Meuniers geeignet uns zu verkindlichen ? Oder Segan-
tini? — Doch genug. Eine Erklärung für jene
Verdächtigung der Kunst finden wir (W. II., S. 201,
202) in dem kurzen aber inhaltschweren Aphoris-
mus über das „jenseits in der Kunst“. Hier wird
klar, was für Kunst er meist im Auge hat; er gibt
selbst Beispiele davon: die divina commedia,
Rafaels und Michelangelos Werke, die gothischen
Münster; alles auf dem Boden der positiven Re-
ligiosität gewachsene Kunstwerke also, welche „eine
metaphysische Bedeutung der Kunstobjekte voraus-
setzen.“ (Nebenbei — wie stimmt das mit der
früher erwähnten irreligiösen Deutung der Sixtina?!)
Aller Mythus also, das Wort im weitesten Sinne
genommen, ist Lebensbedingung für alle Kunst; mit
dem Schwinden des mythischen Elementes in der
Menschenseele müsste demzufolge auch die Kunst
verdorren. Abgesehen von der Unrichtigkeit dieses
Satzes, ist.jenes Schwinden künstlerischer Kraft-
quellen nicht eher zu befürchten, als bis der letzte
Mensch, sei es einer neuen Eiszeit, sei es dem
Siegertritt eines Geschlechtes von Uebermenschen,
erliegt. „Es wird eine rührende Sage daraus werden“,
schliesst Nietzsche, „dass es eine solche Kunst, einen
solchen Künstlerglauben gegeben habe.“ Nun, jene
siegenden Uebermenschen werden Gelegenheit
haben eine noch viel rührende Sage zu dichten:

Die von dem desillusionierten Menschen,
der dennoch, und gerade deshalb, ein Künstler war!
Ja, sie werden vielleicht ihm den Namen geben:
Zarathustras Enkel.
Von jener religiös-mythischen oder auch histor-
ischen „todtenbeschwörenden“ Kunst aber, die er
momentan im Auge hat, heisst es weiter, dass sie
das Werk von Epigonen sei, von „rückwärts ge-
wendeten Wesen“. „So entsteht zuletzt“, sagt er
S. 166, „ein heftiger Antagonismus zwischen dem
Künstler und den gleichalterigen Menschen seiner
Periode und ein trübes Ende; sowie, nach den
Erzählungen der Alten, Homer und Aeschylus in
Melancholie zuletzt lebten und starben.“ — Uns
will scheinen, dass hier zu wenig gesagt ist: Nietzsche
selbst, der Künstler des Zarathustra, erfuhr jenen
heftigen Antagonismus, obwohl er kein „rückwärts
gewendeter“ war, — sagen wir also, obwohl er als
Künstler nicht archaisierte (Aeusserlichkeiten ab-
gerechnet); und andrerseits möchten wir so manchen
grossen Künstler aus seinem Grabe zitieren und
fragen, wie es mit jenem Antagonismus, mit jenem
trübem Ende bei ihm gewesen sei. Was meint
zum Beispiel Ihr, Mynheer P. P. Rubens? — Mich
dünkt, ich höre ein sonniges Lachen als Antwort.
— Die Wahrheit ist: Manche erlöschen lange vor
ihrem Tode, Andre nicht. Das ist aber kein Argu-
ment gegen die Kunst: ist Kraft in That umgesetzt
und That in Werk — was liegt dann am Erlöschen?
In diesem Sinne also kann die Kunst dem Künstler
nie gefährlich werden; insofern er eben Künstler
ist; etwas anderes ists mit der Uebermacht künst-
lerischer Erkenntnis, wenn diese auf einen
schwachen Willen trifft; das hat Zola in
„L’oeuvre“ meisterhaft dargestellt. In ähnlichen
Fällen wie dem des Zolaschen Malers von „Paris“
mag es dann vorkommen, dass der Unglückliche
„an Götter und Dämonen glaubt, die Natur durch-
seelt, die Wissenschaft hasst“ . . . Uebrigens: die
Wissenschaft hassen? Ach nein; eher schon die
Gelehrten; und darin hätte der betreffende Künstler,
trotz seines Irrtums im allgemeinen, hier im be-
sondern nicht so ganz unrecht. Kann man sich
aber einen Lionardo, einen Michelangelo, einen
Dürer denken als Hasser der Wissenschaft? Aller-
dings haben nicht alle Leute, die sich Künstler
nennen, einen so umfassenden Geist wie die drei
genannten; und bei solchen geringen Geistern und
geringen Talenten mag sich vielleicht eher das
Profil darstellen, welches Nietzsche im Verfolg der
zitierten Aussprüche als das Bild eines Künstlers
zeichnet: „An sich ist der Künstler schon ein zurück-
bleibendes Wesen, weil er beim Spiel (!) stehen
bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört“ . . .
Hier heisst also die Kunst Spiel. — Ja, so dachten
die alten Deutschen auch als sie über die „kind-
ischen Thorheiten“ der Römer lachten, die ihre
Räume mit Statuen und Mosaiken verschönt hatten.
Auch Papst Hadrian VI. sprach, zum ersten
Mal in die Loggien und Stanzen Raffaels tretend,
missmutig das grosse Wort: sunt idola paganorum.
— Es thut uns in der Seele weh, den Bewunderer
der Renaissance, Nietzsche, in der Gesellschaft zu
sehen. — Nehmen wir selbst an, dass in obigem

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