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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Escherich, Mela: Kunst als Offenbarung der Natur, 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0388

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— 317 —

Die Strassen laufen in den Platz aus oder nehmen
ihre Fortsetzung an einer Stelle, die ihrem Einlauf
nicht gerade gegenüber liegt. Dadurch ergeben
sich ungleich schwungvollere Kurven, als bei kreis-
runden Plätzen mit sich überschneidenden strahlen-
förmig auseinanderlaufenden Strassenzügen.
Mit der rhythmischen Schönheit geht aber hier,
wie immer, auch das praktische Hand in Hand.
Der Verkehr verteilt sich auf der alten Platzanlage
weit glücklicher. Die Fussgänger brauchen nicht
nach Rettungsinseln zu flüchten, um von einem
Platzende zum andern zu gelangen. Die Wagen
(auch die auf Geleisen fahrenden wie die,,Elektrische“)
geraten weit weniger in Kollisionen. Das ganze
Verkehrsbild ist ein ruhigeres und harmonischeres,
weniger wirbliges als wenn Mensch, Vieh, Last-
fuhrwerk, Karren, Equipage alles auf einen Knäuel
zusammengetrieben wird, wie es bei direkt sich
überschneidenden Linien unvermeidlich der Fall ist.
Im Städtebau bleibt, wie einmal ein Architekt
sagte, sets der krumme Weg der beste.
Daraus ergibt sich, dass das Unregelmässige
praktischer ist als das ausgemacht Regelmässige
— ein Resultat, das so ziemlich alle Einrichtungen
der Natur beweisen.
Und somit lehrt uns auch die Baukunft nichts
andres als das Wesen der Natur erkennen.

Fassen wir nun die vorstehenden Betrachtungen
zusammen, so ergibt sich daraus, dass Kunst einer-
seits im engsten Zusammenheng steht mit allen
übrigen Offenbarungen der Natur, andererseits, dass
sie kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit ist.
Natur kennt keinen Luxus. In ihr hat alles Zweck
und ihre Offenbarungen sind Lebensnotwendigkeiten.
Zu diesen gehört die Kunst. Sie ist eine
Steigerung der Gefühlskraft, die im Menschen liegt
und ringt sich zu Tage, um andere zu erfreuen,
zu begeistern, zu beglücken.
Freude, Begeisterung, Glück sind aber Lebens-
notwendigkeiten, die wir nicht entbehren können.
Menschen, die sich nie freuen, nie erhoben, nie
glücklich fühlen, sind unheimliche Geschöpfe, denen
man alles Böse zutrauen möchte.
Der seelische Zweck der Kunst ist somit denn
wohl auch ein praktischer, insofern man die sitt-
lichen Güter der Menschheit nicht als nebensäch-
liche Gefühlswerte verwerfen will.
Diese Kunstanschauung ist keine neue. Sie
ist Wunsch und Glaube aller derjenigen, welche
die Kunst als der Menschheit bestes Teil ansehen.
In diesem Sinne wollte der Schwede Almquist
die Kunst verehrt wissen wie eine Religion. Seine
Ansicht ist: Man braucht nicht einmal Künstler zu
sein, und ein wahres Künstlerleben — das Zusammen-
leben mit dem Weltall — zu leben. Und in ähn-
lichem Sinne äussert sich Lothar v. Kunowsky
in seinem schönen Werke „durch Kunst zum Leben.“
„Kunst heisst nichts als sichtbare Kultur“. Aber
auch ihm ist die Kunst noch mehr, sie ist ihm
Religion. Und was er aus Deutschland ziehen
möchte, das ist ein Volk von Künstlern.
Almquist wie Kunowsky haben beide den tiefen
sittlichen Wert der Kunst erkannt. Beider Streben

liegt dasselbe Ziel zugrunde, die Menschheit aus
ihrer Verstandesnüchternheit aufzurütteln, sie der
Erkenntnis der sie umgebenden und ihrer eigenen
Natur zuzuführen, der Erkenntnis der Schönheit,
der Freiheit, der Harmonie.
Aufwärtswollen heisst sich aus der Schablone,
vom System, der Regelmässigkeit befreien. Ein
Leben in Schönheit, ein Leben in Kunst, ein Leben
in der Erkenntnis des organischen Zusammen-
hanges unseres Menschentums — das sei das Ziel.

Und vor allem fort mit dem Vollkommenheits-
dusel! Kein Mensch ist vollkommen, weder an Ge-
stalt noch Seele, Wäre er vollkommen, so wäre
er ein Gott. Nur durch die Unvollkommenheit der
einzelnen ist die vollkommene Ganzheit, die Mensch-
heit heisst, möglich. Nur durch die unvollkommenen
Taten des einzelnen ist jene vollkommene Leistung
denkbar, welche wir die Tat einer Epoche nennen.
Von allem was einem Menschen gelingt: Das
Gute gehört der Zeit, das fehlerhafte ihm selbst.
Das vollkommene ist die Epoche, das Unvoll-
kommene die Persönlichkeit.
Es gibt freilich Menschen, von denen die Nach-
welt behauptet, die Epoche hätte sich in ihnen aus-
gedrückt; aber als Persönlichkeiten waren sie den-
noch unvollkommen, hatten Fehler und Mängel wie
andere und auch ihre Taten waren nicht vollendet.
Das gilt von den Künstlern wie ihrer Kunst.
Künstler sind unvollkommen nicht nur als Menschen,
sie sind es auch in ihren Werken. Vollkommen
ist nur die Kunst als solche an sich. In jeder
Persönlichkeit, in der sie sich materialisiert, nimmt
sie auch deren Detailsein in ihre Erscheinung auf.
Auch Dürer, Bach, Goethe machten Fehler und
hatten schwache Stunden in der Kunst. Darum
lässt sich manches an ihnen tadeln. Dennoch gaben
sie ihrer Zeit ihr Gepräge. Und in unserer Er-
innerung lebt ihre Zeit als eine vollkommene Kunst-
epoche.
Wie wir oft bei der Durchwanderung einer
Stadt von einem unregelmässig bebauten Platz ein
regelmässiges Erinnerungsbild mit uns nehmen, so
erscheint uns bei einer geistigen Wanderung durch
die Geschichte der Kunst oft jene Zeit, wo die
extremsten, unvollkommensten Charaktere gegen-
einanderstanden als die vollkommenste.
Je mehr jeder er selbst ist, je besser wird er
die andern ergänzen. Das vollendetste Gesamt-
bild hinterliess die Epoche des Individualismus.
Die traurigsten Erscheinungen in der Kunst
waren die Eklektiker und Manieristen. Indem sie
sich grossen Vorbildern anschlossen und zu diesen
hinauf aus ihrem eigenen Kraftmaterial gleichsam
eine Pyramide kleisterten, erreichten sie eine falsche
Vollkommenheit. Sie gerieten auf dem Weg zu
jenem gefährlichen Mechanismus, der die Funktionen
des Lebens erfüllt ohne Bewusstsein desselben.
Aber die Ideale?
Auch sie besitzen keine Vollkommenheit. Sie
sind unser bestes Selbst. Die Gegensätze unsres
äusseren Wesens. Das ist alles.
 
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